Rundbrief Mai 2011


1. Rabindranath Tagore - Brückenbauer und Universalgenie
- Essax von Yogendra -


Mit wallendem Haar, langem Bart und traditionellem indischem Gewand steht 1921 eine exotisch wirkende Gestalt in Deutschland vor begeisterten Menschenmengen. Inszeniert als mystischer Heiliger aus dem weisen Osten hält Rabindranath Tagore im Rahmen einer Europatournee Vorträge über interkulturelle Verständigung, Versöhnung und Weltfrieden und löst damit eine euphorische Begeisterungswelle bei der vom Ersten Weltkrieg traumatisierten deutschen Jugend aus. Schlagartig weltberühmt geworden war Tagore 1913, als ihm zur allgemeinen Überraschung der Literaturnobelpreis für die englische Übersetzung seiner Gedichtsammlung Gitanjali verliehen wurde. Die Tagore-Begeisterung in Deutschland war allerdings recht kurzlebig - zwei weitere Besuche 1926 und 1930 fanden kaum noch Resonanz, und nach dem Zweiten Weltkrieg war er nahezu vergessen. Erst Jahrzehnte später wurde er mit Direktübersetzungen aus dem bengalischen Original vor allem als Schriftsteller langsam wiederentdeckt. In seiner indischen und vor allem seiner bengalischen Heimat gilt Tagore dagegen mit seinem vielgestaltigen künstlerischen Werk und seinem gesellschaftlichen Engagement als größtes Universalgenie des 20. Jahrhunderts.


Geboren wurde Rabindranath Tagore vor 150 Jahren, am 7.5.1861, in einer bekannten Intellektuellenfamilie in Kalkutta. Sein Großvater Dwarkanath unterstützte soziale, kulturelle und Bildungseinrichtungen und sein Vater Debendranath formulierte die Glaubensätze der neo-hinduistischen Reformbewegung Brahmo Samaj. Auch seine älteren Geschwister waren Schriftsteller, Gelehrte und Philosophen. Als Jugendlicher entdeckte er auf Reisen durch Indien seine Verbindung zur Natur. Und als junger Mann lernte er dann beim Studium in England westliche Kunst, Kultur und Lebensart kennen und schätzen. Aus der Verwurzelung in indischen Traditionen, der Naturverbundenheit und der Offenheit für westliche Ideen entstand ein einzigartiges Lebenswerk, das mit seinen Innovationen die moderne bengalische Literatur entscheidend prägte, dem Bildungswesen neue ganzheitliche Impulse gab, die Entwicklung des ländlichen Raumes vorantrieb, ein umfangreiches malerisches Werk schuf und mit hunderten von Liedern das neue musikalische Genre Rabindra Sangit kreierte. Politisch engagierte sich Tagore zudem im indischen Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft, schrieb die indische Nationalhymne und fand den Beinamen Mahatma, große Seele, für M.K.Gandhi, der als Freiheitskämpfer unter dem Namen Mahatma Gandhi zum Vater der indischen Nation wurde.


Auch wenn Tagores Wirken in Deutschland auf den ersten Blick wenig nachhaltig erscheint, muss er als ein bedeutender Vorreiter eines interkulturellen Austausches gewürdigt werden, der uns heute vielleicht selbstverständlich erscheint. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten dagegen nationalistische und imperialistische Ideologien das europäische Selbstverständnis - kein besonders fruchtbarer Boden für eine Würdigung außereuropäischer Kulturen. Dass es Tagore und anderen Vorreitern wie z.B. Hazrat Inayat Khan (s.u.) trotz dieses eher feindlichen Klimas gelungen ist, bleibende Spuren im Westen zu hinterlassen, muss ihnen hoch angerechnet werden. Sie trugen dazu bei, den europäischen Blick von der Nabelschau weg in die Welt zu lenken und bereiteten so den Boden vor, auf dem Freunde indischer Klänge sich heute hierzulande bewegen. Dass Tagore dabei zwischenzeitlich zur Heilsfigur hochstilisiert wurde, sagt vor allem etwas über die Erlösungssehnsüchte des hiesigen Publikums und die Schwierigkeit, die Kluft zwischen Fremdem und Eigenem zu überbrücken. Erst mit einem realitätsgedeckten Verständnis füreinander und einem konstruktiven Miteinander wird echte Begegnung möglich. An diesen Lernaufgaben arbeiten wir bis heute.


Infos zu Leben und Werk: Wikipedia

 


2. Seiten im Leben eines Sufi
- Rezension von Yogendra -


Der indische Sufi-Meister und Musiker Hazrat Inayat Khan (1882 - 1927) war einer der charismatischsten Pioniere, die Anfang des 20. Jahrhunderts geistige und künstlerische Ideen aus Indien in den Westen brachten. Anders als z.B. Rabindranath Tagore (s.o.) bereiste er Europa und Amerika nicht nur, sondern ließ sich ab 1910 dauerhaft im Westen nieder, um seine Botschaft zu verbreiten. In den ersten Jahren nach seiner Emigration gab er zahlreiche Konzerte und Vorträge zu indischer Musik, fand damit aber wenig Verständnis und Anerkennung, vor allem in den Kriegsjahren. So verlagerte Hazrat Inayat Khan sein Wirken mehr auf die geistige Arbeit, die in den 1920er Jahren mehr und mehr Zuspruch bekam. Der 1917 von ihm gegründete und später von seinem Sohn Vilayat Inayat Khan und danach von seinem Enkel Zia Inayat Khan geleitete Internationale Sufi-Orden ist bis heute eine weltweit aktive, lebendige Bewegung.

Musharaff Moulamia Khan (1895 - 1967) war der jüngste Bruder von Hazrat Inayat Khan und von 1958 bis zu seinem Tod Oberhaupt des Internationalen Sufi-Ordens. 1932 verfasste er eine autobiografische Schrift, die dieses Jahr von Puran Füchslin erstmals ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel "Seiten im Leben eines Sufi - Betrachtungen und Begebenheiten" herausgebracht wurde. Darin beschreibt Musharaff den Werdegang seiner Vorfahren, seine Kindheit als Spross einer angesehenen Musikerdynastie am Fürstenhof von Baroda, seine Zeit mit Hazrat Inayat in Kalkutta, die eigene Reise in die USA und die Mission des Sufi-Ordens. Abgerundet wird das Werk mit Musharaffs Betrachtungen zu Musik in Ost und West, zu den Geheimnissen des Klanges und der Schönheit und den Berichten von drei Pilgerreisen nach Indien.

Die "Seiten im Leben eines Sufi" wirken heute wie ein doppelt entfernes Echo - einerseits einer längst vergangenen Epoche, andererseits einer fremden, fernen Kultur. Dem Rezensenten bleibt der assoziative, anekdotische Erzählstil leider eher unzugänglich. Die Feinheit und Subtilität des inneren Lebens, die immer wieder beschworen wird, bleibt ihm ungreifbar und nebulös. Die inspirierte und begeisternde Kraft, mit der Hazrat Inayat Khan seine Lehren vortrug, scheint Musharaff zu fehlen. Liegt das womöglich auch an der mitunter etwas holperigen deutschen Übersetzung? Schade auch, dass auf Erläuterungen zu den vielen spannenden historischen Fotos zwischen den Kapiteln verzichtet wurde. Aber sicherlich können andere Leser gerade dem still bescheidenen Charakter dieses Buches einen besonderen Charme abgewinnen, vor allem wenn sie mit Hazrat Inayat Khans Sufibewegung sympathisieren oder ein ausgeprägtes Interesse an historischen Quellentexten zur indischen Musik und zum Leben an einem indischen Fürstenhof haben.

"Seiten im Leben eines Sufi" ist für 15,- Euro über folgende Website direkt bei Puran Füchslin erhältlich: petamapublications.blogspot.com

Weitere Infos zu Hazrat Inayat Khan und Musharaff Moulamia Khan:

Wikipedia/Hazrat_Inayat_Khan
Wikipedia/Musharaff_Moulamia_Khan




3. Klangarbeit mit Ragas (4) - Hansadhvani: Ruf der Seele
- Hintergrundinfo von Thomas Meisenheimer -


Der aus der südindischen Tradition stammende Raga Hansadhvani basiert auf einer fünfstufigen Tonleiter, die auch Halbtonschritte benutzt (hemitonische Pentatonik). Die Pentatonik gehört zum ältesten Tonsystem. Musikethnologen bezeichnen pentatonische Musik als eine universelle Sprache; die in Japan, China, Indien, Nordafrika, bei den Kelten, den Eskimos, in Nord-, Mittel- und Südamerika und auch im alten Europa weit verbreitet war. Während die Diatonik immer eine Frage offen lässt, bietet die Pentatonik einen Lösungsvorschlag an. Wegen ihrer ordnenden und klärenden Wirkung wird Pentatonik auch besonders häufig in der Klangtherapie eingesetzt. Neueste Forschungen haben gezeigt, dass pentatonische Musik z.B. bei autistischen Kindern das Selbstvertrauen und die Entscheidungsfähigkeit fördern kann.

Die Klangstruktur von Raga Hansadhvani basiert auf Tonika (Sa), großer Sekunde (Re), großer Terz ( Ga), Quinte (Pa) und großer Septime (Ni). Das Wort "Hansa" kommt aus dem Sanskrit und bedeutet Schwan. Es wird aber auch synonym für "Atman - die Seele" verwendet. Das Wort "Dhvani" bedeutet "Ruf" oder "Schrei". Raga Hansadhvani ist also der Ruf der Seele. Wegen der leichten Spielbarkeit auf der Bambusflöte Bansuri gehört dieser Raga zum ersten Repertoire der Bansurischüler.

Raga Hansadhvani vermittelt ein Gefühl von Sorglosigkeit und Unbeschwertheit. Er wirkt verspielt und kindhaft, strahlt Lebensfreude und Leichtigkeit aus, verteibt die dunklen Wolken des Alltags und klärt den Geist. Immer wieder kommt mir das Bild des Lebenskünstlers Alexis Zorbas in den Sinn, wenn ich diesen Raga höre oder spiele. Der Raga stärkt in mir das Vertrauen, mit Wohlwollen dem Wandel der Zeit zuzuschauen. Wie ein Freund nimmt mich Hansadhvani an die Hand und führt mich hinaus aus der Enge in den weiten Raum. Der innere Seelenvogel singt das alte Lied vom Duft der Freiheit. Der urspüngliche natürliche Zustand, frei von allen Masken und Blockierungen, wird in mir gestärkt.

Die folgenden Videoclips möchten zu Vertiefung anregen:
Bansuri mit Hariprasad Chaurasia
Khyal-Gesang mit Amir Khan
Khyal-Gesang mit Rashid Khan
Khyal-Gesang mit Pandit Jasraj
Südindische Saraswati-Vina mit Jyothi Chetan

Seit über 20 Jahren beschäftigt sich Thomas Meisenheimer mit indischen Ragas, ihrer Wirkung und ihrem Einsatz als klangtherapeutisches Mittel. In der Reihe "Klangarbeit mit Ragas" stellt er seine Erfahrungen vor - nicht als allgemeine "Raga-Hausapotheke", sondern als Anregung zu eigenem Ausprobieren, Erleben und Erforschen.




4. Beflügelnder Meisterkurs mit Partha Chatterjee - Workshopbericht
- Workshopbericht von Yogendra -


Was brachte Menschen aus ganz Deutschland und aus Österreich Anfang Mai für fünf Tage in Bad Homburg zusammen? Nach mehrjähriger Pause war Sitarmeister Partha Chatterjee aus der Maihar-Gharana erstmals wieder für einen Intensivworkshop zu Gast! Partha Chatterjee ist Guru an der Sangeet Research Academy in Kalkutta, der heute wohl weltweit renommiertesten Ausbildungsstätte für indische Musik, und Vater und Lehrer des jungen Starsitaristen Purbayan Chatterjee. In den 1990er Jahren war er regelmäßig für Konzerttourneen und Workshops in Mitteleuropa unterwegs, verlegte seine Aktivitäten aber in den 2000er Jahren zunehmend in die USA, wo er zweimal jährlich für mehrere Wochen einen festen Schülerkreis in der Nähe von San Franzisko unterrichtet.

Fünf Tage lang nur Musik auf hohem professionellem Niveau, von morgens bis abends, in einem Raum, begleitet von Erklärungen, Unterweisungen, Anekdoten, einprägsamen Vergleichen und Live-Tabla, gespielt von Stefan Mitter: da war jeder Einzelne bis an seine Grenzen gefordert - und manchmal auch darüber hinaus. Die meisten Teilnehmer hatten schon an früheren Workshops mit Partha Chatterjee teilgenommen und regelmäßig auch bei ihm in Kalkutta gelernt. Man kannte und schätzte einander, so dass sich schnell ein vertrautes, offenes, fast intimes Miteinander im Unterricht und drum herum einstellte. Ganz traditionell wurde reihum in Einzelsessions oder Zweiergruppen gearbeitet, so dass jeder zweimal täglich dem Meister gegenüber saß. Ob selbst am Instrument oder aufmerksam lauschend beim Unterricht der anderen - es herrschte stets eine Atmosphäre des Lernens und des Austausches mit der Konzentration auf das Wesentliche - die Musik.

Bhairav, Nat Bhairav, Bhairavi, Todi, Gujari Todi, Bilaskhani Todi, Jounpuri, Multani, Shri, Hemant, Bihag, Yaman, Pilu, Manj Khamaj, Jog, Darbari Kanada und Chandrakosh - die Liste der unterrichteten Ragas lässt die Fülle und Komplexität des bearbeiteten Stoffes ebenso erahnen wie ein Blick auf die verwendeten Talas: Neben dem obligatorischen Tintal wurde auch in Sitarkhani, Jhaptal, Rupak und Matta gespielt. Fantastisch dabei immer wieder, mit welch luzider Klarheit Partha Chatterjee ein tiefes Verständnis für jeden einzelnen Ton jedes Ragas und für jeden einzelnen Mikrobeat im Tala vermittelte. Jenseits von starrem Auswendiglernen oder diffuser Umherimprovisiererei öffneten sich so laufend neue Zugänge zur Essenz der klassischen Raga-Musik. Beglückt und inspiriert von dieser einzigartigen Musikerfahrung ist es jetzt an den Teilnehmern, aus den gelegten Saaten Blüten sprießen zu lassen... In der Erinnerung bleiben unheimlich intensive Tage und die Freude auf eine Fortsetzung und ein Wiedersehen im nächsten Jahr.

 

 


5. Indische Musik an der Universität Hildesheim - Info & Hintergrund
- Szene-Info -


Das Center for World Music der Universität Hildesheim legt in den nächsten Wochen einen Schwerpunkt auf Veranstaltungen mit indischer Musik. Konzerte gibt es am 24.5. mit dem indisch inspirierten Weltmusiktrio Indigo Masala und am 7.6. mit Dhrupad, Khyal und Thumri aus Darbhanga mit der Mallik-Familie. Am 9.6. stellt Filmemacher und Rudra-Vina-Spieler Carsten Wicke seine Dokumentation "Music Masala - Eine Reise durch die klassische Musik Nordindiens" vor. "Music Masala" ist für 35,- Euro auch bei India Instruments erhältlich - ausführliche Infos zum Film auf www.india-instruments.de/medien

Das Center for World Music ist eine musikethnologische Forschungseinrichtung und bietet sowohl Lehre als auch ein Veranstaltungsprogramm an. Das Center wurde im Sommer 2009 eröffnet und gewährt seitdem einen Einblick in eine Sammlung mit über 3500 Musikinstrumenten aus aller Welt, rund 50.000 Tonträgern und mehr als 10.000 Büchern zur Musikethnologie. Die Leitung übernahm in diesem Frühjahr der renommierte Musikethnologe Raimund Vogels, engagierter Professor für Musikethnologie an der Hochschule für Musik und Theater Hannover. Weitere Infos auf www.uni-hildesheim.de

Die relativ kleine Universität Hildesheim hat schon seit den 1980er Jahren innovative Wege im Bereich künstlerischer Studienmöglichkeiten beschritten. Herzstück der Angebote ist heute der Bachelor-Studiengang "Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis", in dem nach einer Aufnahmeprüfung ein kulturwissenschaftlicher Schwerpunkt parallel mit künstlerischer Praxis studiert wird. Im Musikschwerpunkt erhalten die Studierenden u.a. auch instrumentalpraktischen Unterricht. Dabei kann das Instrument völlig frei gewählt werden - es gibt unter anderem auch Lehrerkräte für Sitar und Tabla, Gamelan, Djembe und Baglama! Weitere Infos auf www.uni-hildesheim.de

Neu in Planung ist der Master-Studiengang "Kulturelle Diversität in der musikalischen Bildung", mit dem die vorhandenen interkulturellen Kompetenzen im Musikbereich weiter ausgebaut werden sollen. Darin kann vielleicht auch indische Musik eine Rolle spielen. Weitere Infos auf www.uni-hildesheim.de

 

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