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Hariprasad Chaurasia - Die süßeste Seite der indischen Musik

Eine Hommage von Jan Reichow zum 75. Geburtstag
(Juli 2013)

Hariprasad Chaurasia wurde am 1. Juli 75 Jahre alt.

Wenn ich mich nicht irre, ist der 5. Dezember dieses Jahres für mich ein besonderes Datum: nicht weil ich am Tag danach Geburtstag habe, - das gabs schon häufiger -, sondern weil es dann auf den Tag genau 30 Jahre her ist, dass ich die süßeste Seite der Hindustani Musik kennengelernt habe, die ich von da an nicht mehr missen mochte: den realen Klang der Bansuri-Flöte, die ich vorher schon oft auf Darstellungen des Gottes Krishna gesehen hatte: man sagt, sein Antlitz habe die dunkle Farbe einer frischen Gewitterwolke, die erhobene Flöte in seiner Hand aber bedeute sinnliche und übersinnliche Freude. Doch zur Sache: Die "Tage alter Musik" in Herne sollten im Zeichen der alten Flöten stehen, der Blockflöte und der barocken Traversflöte, und der WDR-Kollege fragte mich, ob ich nicht etwas beizusteuern habe. Mein Gewährsmann Gopinath Nag in Stuttgart war sofort Feuer und Flamme, - da kommt nur einer in Frage, rief er: Hariprasad Chaurasia, von dem werden Sie noch viel hören! In der Tat, sein Auftritt für den WDR am 5.12.1983 im Kulturzentrum Herne war der erste in einer langen Reihe indischer Veranstaltungen und Radiosendungen im Zeichen der Bansuri, und ich werde nie vergessen, wie er am Ende dieser Premiere noch ein winziges Rohr aus der Tasche zog, um in allerhöchsten Fötentönen zu schließen. Das Publikum war hingerissen. Zwei Jahre später musste er unbedingt wiederkommen, diesmal zu unserem Festival nordindischer Musik in der Kölner Musikhochschule, in dessen Zentrum Ravi Shankar stehen sollte: am Tag danach Shivkumar Sharma, am Tag davor eben Hariprasad Chaurasia, und tatsächlich - trotz der absoluten Prominenz des Sitaristen - erschien das Kölner Festival im Rückblick wie ein Gipfeltreffen gleichrangiger Künstler. 4. - 6. März 1985.

Aber wie konnte es 20 Jahre nach der "Sitar-Explosion" (O-Ton Ravi Shankar) zum regelrechten Siegeszug der sanften Bansuri-Flöte im Westen kommen? Wahrscheinlich weil sie auch Leuten ins Ohr ging, die sich sonst weniger leicht auf fremde Musik einließen. Zudem machte der Künstler durch einige sehr gelungene Experimente in Fusionsmusik von sich reden. Das verbindende Amalgam kam von Tabla-Zauberer Zakir Hussain, der auch 1985 in Köln beteiligt war, aber schon in den 70er Jahren mit der Band "Shakti" Furore gemacht hatte. 1986 spielte er nun zusammen mit Hariprasad Chaurasia, John McLaughlin und Jan Garbarek das Album "Making Music" ein, das als eins der überzeugendsten Beispiele in die Geschichte musikalischer Ost-West-Meetings einging. Das Wort Bansuri wurde zum Begriff. Ob im rhythmusbetonten Jazz oder in den stillen Meditationszentren, - hier wurde zuweilen ausdrücklich verlangt: bitte ohne den Störfaktor Tabla! -, man liebte überall die ebenso wendig-virtuose wie auch einschmeichelnde indische Flöte, aber diesem Künstler nahm man auch weiterhin die großen traditionellen Raga-Präsentationen ab. Seine Größe bestand gerade darin, dass er sie in klassischer Reinheit und mit atemberaubender Sorgfalt entwickelte. Ich vergesse nie, dass es seine Interpretation des Ragas Lalit war, die mich begeisterte, als ich ein indisches Pendant zu Mozart suchte, - speziell für dessen sinnliche Ambivalenz, wie sie sich in der Oper Cosi fan tutte entfaltet. War es nicht das gleiche Phänomen, das überaus fesselnd im Raga Lalit zum Ausdruck kommt? Und niemand äußerte sich befremdet, wenn der Klassiksender WDR3 am hellichten Nachmittag rund 30 Minuten indische Musik sendete, immer wieder von Mozart zum Raga Lalit hinüberwandernd, - man erlebte hautnah, dass beide Musikwelten vom gleichen Geist getragen werden.

Hariprasad Chaurasia wurde am 1. Juli 1938 im nordindischen Allahabad geboren, dort wo Ganges und Yamuna zusammenfließen, dem alten hinduistischen Pilgerziel. Zu den merkwürdigsten Fakten in der Biographie dieses sensiblen Künstlers gehört es, dass er als Sohn eines Ringkämpfers auf die Welt kam und - für denselben Beruf ausersehen - erst mit 15 Jahren wirklich zur Musik fand. Bei einem Sänger in der Nachbarschaft erhielt er ersten Unterricht und lernte Vokaltechniken, bis er Pandit Bholanath hörte, einen Flötenspieler aus Varanasi, der nun 8 Jahre lang sein Lehrer blieb. Schon bald begann er bei der indischen Radiostation AIR in Cuttack (Orissa) als Musiker und Komponist, 1960 kam er in gleicher Funktion nach Mumbai. Und hier begegnete er der Tochter des legendären Musikers und Gurus Allaudin Khan, der Surbaharspielerin Anapurna Devi. Sie hatte bei ihrem Vater die genialste und härteste Schule Indiens durchlaufen, ebenso wie ihr später weltberühmter Bruder, der Sarodspieler Ali Akbar Khan; ebenso wie auch Ravi Shankar, mit dem sie verheiratet gewesen war. In dieser Begegnung erlebte Hariprasad Chaurasia eine völlig neue Dimension der Musik, die sein ganzes künstlerisches Leben prägen sollte.

Die Auszeichnungen, Preise und Ehrendoktortitel, die ihm zugesprochen wurden, ergeben eine lange Liste; über Jahrzehnte war er der künstlerische Leiter der nordindischen Abteilung des Rotterdamer Konservatoriums. Und dass er heute immer noch anstrengende Konzerte und Konzertreisen durchzustehen vermag, bringt er selbst augenzwinkernd mit der Tatsache in Verbindung, dass seine frühe Jugend von der physischen Disziplin des Ringkampfes geprägt war.

In Wahrheit - kämpft niemand auf der Bühne weniger als er. Ja, wenn er spielt, - und er spielt im wahrsten Sinne des Wortes - verschwindet er vollständig in seiner Musik: einem deutschen Journalisten, der ihn vor 10 Jahren für die WDR-Sendung Musikpassagen befragte, sagte er: "Ich sitze nur da, ich bin stumm, halte ein Stück Bambus in den Händen, aber jemand spielt darauf und jemand hört zu, und da ist auch jemand zwischen den Hörern und mir. Das ist, so vermute ich, eine höhere Kraft - und für diese höhere Kraft spiele ich, und wenn diese höhere Kraft Freude an der Musik hat, dann erfreuen auch wir uns an der Musik, die Musikliebhaber und ich selbst."

Am rührendsten fand ich, wie er zu singen begann, als er nach einem Lieblingsstück in der westlichen Musik gefragt wurde; er erwähnte schwedische Volksmusik, französische, und dann - zitierte er meine Lieblingsmelodie: "For example I heard some music from Sweden, Swedish folk music. I heard music from France ... like .... (er denkt nach und singt eine Zeile von 'Au clair de la lune'). It is so pleasing, so simple, so nice!" Auch dafür liebe ich ihn.