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Hindustani Gata-s Compilation - Buch mit Instrumentalkompositionen

Rezension von Yogendra
(Mai 2012)

Gats (oder Gata-s) sind in der klassischen nordindischen Musik kurze Kompositionen für gezupfte Saiteninstrumente wie Sitar oder Sarod, die als thematische Ausgangsbasis für weiterführende Improvisationen in einem Raga und Tala dienen. Da Gats eines der wenigen relativ festgelegten Elemente der Hindustani-Musik sind (abgesehen natürlich von der Klanggestalt der Ragas selbst), bilden sie ein wichtiges Grundgerüst für das theoretische und praktische Studium. Im Idealfall geben sie ein melodisch und rhythmisch ausgefeiltes Kurzportrait eines Ragas, das dessen wesentliche Züge in künstlerisch überzeugender Form beinhaltet.

Mit seinem Anfang 2012 erschienenen Buch "Hindustani Gata-s Compilation - Instrumental Themes in Indian Classical Music" legt der französische Musikologe und Sitarist Patrick Moutal eine beeindruckende Sammlung von Gats vor. Auf über 250 Seiten präsentiert er Notationen von 454 Gats in 164 Ragas und 15 Talas, die er während seiner Studienjahre in Varanasi etwa von 1970 bis 1983 gesammelt hat. Darunter finden sich natürlich nicht nur die etwa 70 bis 80 allgemein bekannten Ragas, sondern auch viele unbekanntere Exoten. Ebenso schillernd und vielschichtig wie die vorgestellten Gats sind die Quellen, aus denen sie stammen. Die meisten Gats kommen von Lal Mani Misra und K. C. Gangrade, Patrick Moutals Lehrern in Varanasi, und repräsentieren damit musikalische Traditionslinien, die außerhalb Indiens relativ wenig bekannt sind. Mit einzelnen Gats vertreten sind aber auch international bekannte Virtuosen wie Allauddin Khan, Nikhil Banerjee, Ravi Shankar, Vilayat Khan, Rais Khan, Imrat Khan, Buddhaditya Mukherjee und Balaram Pathak. Ebenso dabei sind V. N. Bhatkhande und etliche bekannte Sänger aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Und nicht zuletzt hat Patrick Moutal auch selbst mit etlichen Eigenkompositionen beigetragen. Tradiert wurden die Gats entweder in persönlichem Unterricht, durch Übernahme aus schriftlichen Publikationen oder durch Transkriptionen veröffentlichter Aufnahmen.

Notiert sind die Gats im von V. N. Bhatkhande entwickelten Svaralipi-System, einer Buchstabennotation mit den Zeichen des Devanagari-Alphabets (die u.a. für Sanskrit und das moderne Hindi verwendet werden), die im Buch natürlich auch ausführlich erklärt wird. In der Wahl dieses Notationssystems liegt aber leider eine doppelte Schwäche des Werkes: Zum einen erschweren die fremden Zeichen dem westlichen Leser ganz erheblich und völlig unnötigerweise den Zugang zum Notenbild. Und zum anderen erlaubt die starre Form des Systems auch nur eine starre, relativ oberflächliche Darstellung der Musik. Ornamente und Artikulationsvorschriften, die den Klang eines Ragas entscheidend prägen, fehlen weitgehend. Auch rhythmische Feinheiten, die über eine gleichmäßige Unterteilung einer Zeiteinheit hinausgehen, kommen nicht vor.

Damit bezieht Patrick Moutal eine sehr traditionalistische Position, die Notationen grundsätzlich nur als Erinnerungsstützen und skelettartige Darstellungen verwendet wissen will. Musikalisch mit Leben erfüllt werden könne eine Notation demnach nur, wenn der Interpret das Gat schon als Klanggestalt vom Lehrer (oder zur Not auch von einer Aufnahme) gehört habe oder zumindest den zugrunde liegenden Raga in allen Feinheiten beherrsche. Diese Auffassung verzichtet aus heute eigentlich überholt scheinenden ideologischen Gründen bewusst auf eine nuanciertere Darstellung der Musik und verkennt damit die vielfältigen weiterführenden Möglichkeiten detaillierterer Notationen wie sie z.B. in Joep Bors "The Raga Guide" oder in George Ruckerts "The Classical Music of North India" verwendet werden.

An wen richtet sich das Buch wohl konkret? Für Anfänger in indischer Musik ist es sicher nicht geeignet, setzt es doch wie gesagt schon eine gute Kenntnis der jeweiligen Ragas voraus. Wer Hindi beherrscht wird wohl eher auf die umfangreichen indischen Publikationen zurückgreifen. Und wer längere detailliert ausnotierte Stücke zum vertiefenden Studium der Aufführungspraxis sucht wird eher bei George Ruckert fündig. Hoch interessant ist diese Gat-Sammlung aber sicher für alle, die eine breite Palette an Ragas und Talas ebenso beherrschen wie die Prinzipien der improvisatorischen Raga-Entfaltung und die auf der Suche nach neuen Gats zur Erweiterung und Differenzierung ihres Repertoires sind - wenn sie sich vom Devanagari und der sehr uneinheitlichen Quellenlage nicht abschrecken lassen. Für diese wohl eher kleine Zielgruppe mag das Buch zu einer echten Schatzgrube werden.