India Instruments » Netzwerk » Hintergrundtsexte » Indische Klassik

Indische Klassik

Hintergrundtext von Yogendra
(Januar 2012)

Die klassische indische Musiktradition und ihre Instrumente sind die Grundlage für die Arbeit von India Instruments. Aber was hat es mit dieser Tradition auf sich? Yogendra gibt eine Einführung für Anfänger.

1. Spiritualität - Vom Färben des Geistes
2. Raga & Tala - Seele & Herz
3. Nord- & Südindien - Zwei große Traditionen
4. Dhrupad, Khyal, Thumri & Instrumentalstil
5. Interpreten - Meister des Raga
6. Instrumente - Magie des Klangs
7. Tradition & Erneuerung


1. Spirituality - Vom Färben des Geistes


Nada Brahma - „Gott ist Schwingung“ oder „die Welt ist Klang“ ist eine zentrale Vorstellung altindischer Philosophie. Die Ansicht, dass das Gewebe des Kosmos ein interaktiver Tanz feinster Schwingungen sei, findet sich bereits im Natya Shastra, einem Grundlagenwerk der indischen Kunsttheorie, das wahrscheinlich zwischen 200 v. Chr. und 200 n.Chr. entstanden ist - und sie wird von der modernen Physik heute eindrucksvoll bestätigt.


Hörbare und unhörbare Schwingung

Die feinsten Schwingungen, Anahata Nada („unangeschlagene Schwingung“), sind nach indischer Lehre nur innerlich nach langjähriger Übung in tiefer Meditation erfahrbar. Leichteren Zugang zur Schwingungsebene bieten die hörbaren Klänge, Ahata Nada („angeschlagene Schwingung“). Auch Musik ist Nada, Schwingung, und so kann der Mensch im Musik-Erleben - ob als Musiker oder als Zuhörer - besonders leicht und unmittelbar seines Eingebundenseins in das Gewebe des Kosmos gewahr werden.


Gefühle als Tor zur Essenz

Im Natya Shastra wird dargelegt, dass sich alle menschlichen Gefühle auf acht essenzielle emotionale Qualitäten zurückführen lassen: Liebe, Heiterkeit, Mitleid, Schrecken, Mut, Furcht, Ekel und Erstaunen. Im Alltag durchleben wir diese Gefühle in den verschiedensten Mischungen. Wenn aber beim Musizieren eine essentielle Emotion zum Ausdruck kommt, wird es möglich, sie ohne persönliche Betroffenheit in Reinform zu erleben. Durch dieses Erleben, genannt Rasa (wörtl. „Saft“ oder „Essenz“), kann sich die Identifizierung mit der begrenzten individuellen Persönlichkeit lösen und ein Zugang zu transpersonaler Glückseligkeit öffnen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um ein „angenehmes“ (z.B. Heiterkeit) oder ein „unangenehmes“ (z.B. Ekel) Rasa handelt - wenn das Erleben bis zur Essenz geht, dann wird jedes Rasa zur transformierenden Kraft, die das kleine Alltags-Ich auflöst und mit dem großen Ganzen verschmilzt.

Die Kraft des Raga

Der Schlüssel zum mystischen Einheitserleben in der indischen Musik heißt Raga. Einer bekannten Definition gemäß ist Raga „das, was den Geist färbt“. In den klassischen Musiktraditionen Nord- und Südindiens gibt es hunderte von Ragas, von denen einige dutzend allgemein bekannt sind, manche aber auch nur in mündlicher Schüler-Lehrer-Tradition überliefert werden. Jeder Raga hat eine ganz eigene, für Eingeweihte unverwechselbare melodische Gestalt. Diese Melodiegestalt entsteht durch ein ausgefeiltes Regelwerk, das für jeden Raga genau festlegt, welche Töne aufwärts gespielt werden dürfen und welche abwärts, wo Melodiebögen beginnen oder enden, wie Verzierungen zu verwenden sind, welche Töne stark oder schwach oder völlig verboten sind, etc. etc. Wenn all diese Regeln befolgt werden und wenn es beim Spielen gelingt, sich tief auf die ganz individuelle Ausdrucksqualität des gewählten Ragas einzustimmen, wenn zudem Ort und Zeit richtig gewählt sind, dann wird eine Raga-Performance zur mystischen Erfahrung. Unter besonderen Umständen soll ein Raga sogar auf magische Weise die Naturkräfte beeinflussen können: Die Musiker-Familie Mallik berichtet, dass ihre Vorfahren in Darbhanga 1788 eine gefährliche Dürreperiode beendet und so eine Hungersnot abgewendet haben, indem sie einen Monsun-Raga sangen und damit Regen herbeibeschworen.

Von Stille zu Extase

Das „Färben des Geistes“ mit Rasa braucht Zeit - eine Stunde für das Spiel eines einzigen Ragas ist keine Seltenheit. Zunächst legt das Saiteninstrument Tanpura im Raum einen schillernden Klangteppich aus, auf den Musiker wie Zuhörer sich einschwingen und dessen ununterbrochen gespielter Grundton als Fundament für den Aufbau der Raga-Gestalt dient. Darauf werden die ersten Melodietöne angespielt oder gesungen, langsam und meditativ zunächst, Stück für Stück gelassen die Gestalt des Raga enthüllend, im Laufe der Zeit immer komplexer und ausgreifender, immer neue Details offenbarend, sich verdichtend zu einem melodischen Pulsieren, das kaum merklich schneller und dichter wird und irgendwann die Rhythmusbegleitung mit einlädt, anfangs in ruhig schreitendem Tempo, in weiten kreisenden Bögen, aber allmählich lebhafter und expressiver, spontane Dialoge von Melodie und Rhythmus spinnend, schneller und immer schneller werdend, immer virtuoser und dynamischer, bis schließlich in einem brillanten Feuerwerk ein wirbelnder extatischer Schlusshöhepunkt erreicht wird.


2. Raga & Tala - Seele & Herz

Raga und Tala, Melodie und Rhythmus, sind die Seele und das Herz der klassischen indischen Musiktradition. Das Sanskrit-Wort Raga leitet sich vom Verb "ranj" ab, das "färben" bedeutet. Ragas sind melodische Strukturen für Improvisation und Komposition, die bildlich gesprochen den Geist färben, also eine bestimmte seelische Wirkung auf die Zuhörer haben sollen. Tala bedeutet wörtlich "Klatschen" und bezeichnet die rhythmische Ebene, den lebendigen Pulsschlag, in dem sich die Musik entfaltet.


Regeln für Ragas

Jeder der mehreren hundert bekannten Ragas hat eine ganz eigene individuelle Klang-Gestalt, die ihn von allen anderen Ragas unterscheidet. Sie wird definiert durch eine aufsteigende und eine absteigende Tonbewegung mit je fünf bis sieben Tönen. Oft verwenden die auf- und absteigende Bewegung die gleichen Töne, aber manchmal kommen auch ganz verschiedene Töne vor. Manchmal kommen die Töne geradlinig nacheinander wie bei einer Tonleiter, aber manchmal machen sie auch Zickzackbewegungen. Manche Töne werden quasi nackt verwendet, während andere mit raffinierten Ornamenten umspielt werden. Manche Töne laden zum Verweilen ein, andere werden nur kurz gestreift. Manche verbinden sich mit anderen zu charakteristischen Sequenzen, während andere immer wieder neu kombiniert werden. Und alle Töne beziehen sich auf einen ununterbrochen durchklingenden Grundton, der meist von einem Instrument namens Tanpura als schillernder Klangteppich im Hintergrund gespielt wird.

Entfaltung der Struktur

Aus all dem ergibt sich für jeden Raga eine einzigartige Struktur. Sie lässt sich bildlich vergleichen mit den Vokabel und der Grammatik einer Sprache, den Schrittfolgen eines Tanzes oder der Erbinformation eines Lebewesens. Damit diese Struktur sich entfalten kann, muss die Sprache gesprochen werden, der Tanz getanzt, und das Lebewesen muss wachsen und sich entwickeln. Erst in dieser Entfaltung wird der Raga lebendig und nimmt eine konkrete Erscheinungsform an. Das kann eine feste Form in einer bestimmten Komposition sein - ähnlich wie ein aufgeschriebenes Gedicht, in dem sich die Regeln und die Schönheit einer Sprache manifestieren. Meistens geschieht die Raga-Entfaltung aber spontan improvisierend aus dem Moment heraus - so wie wir beim Sprechen meist auch keine auswendig gelernten Texte aufsagen sondern uns spontan passend zur Situation ausdrücken.

Magie der Ragas

Jeder Raga hat aber nicht nur eine bestimmte formale Struktur sondern eine seelische Schwingung, eine Stimmung, Farbe, Energie oder wie immer man es ausdrücken mag. Viele Ragas sind deshalb assoziiert mit ihnen entsprechenden Tages- oder Jahreszeiten oder Gottheiten. Jahrhundertelang hat man auch versucht, den besonderen Charakter eines Ragas in Form von Gemälden und Gedichten darzustellen. All diese Assoziationen und Übersetzungsversuche können bei der Annäherung an einen Raga hilfreich sein, um Türen zu inneren Erlebnisräumen zu öffnen. Die Magie eines Ragas lässt sich damit aber nicht wirklich erfassen. Ganz ohne Worte, nur mit abstrakten Tönen, vermag er durch die jahrzehntelang kultivierte Kunst großer Musiker unser Innerstes zu berühren, einen frischen Quell subtiler Freude immer wieder neu zum Fließen zu bringen und uns an einen Ort tiefen Friedens zu führen.

Ewiger Fluss der Zeit

Eine tragende Rolle bei der Entfaltung des Ragas spielt der Tala, die rhythmische Struktur. Talas sind nicht geradlinig wie die Takte in der westlichen Musik sondern kreisförmig - Anfang und Ende fallen zusammen, so dass die Bewegung im Prinzip ewig weitergeht. Wir kennen das von der Uhr, wo wir bei Vollendung der zwölften Stunde nachts entweder von 00:00 Uhr, dem Anfang des neuen Tages, oder von 24:00 Uhr, dem Ende des vorigen Tages sprechen können. Aber egal wie wir es betrachten - die Zeit läuft gleichmäßig und ungerührt immer weiter. Und ebenso bewegt sich auch der Tala in gleichmäßigen Pulsen immer weiter und schafft so einen dynamischen Rahmen für die Musik. Besondere Bedeutung hat dabei die Eins, der erste Schlag, an dem Anfang und Ende ineinander fallen. Um diese Eins dreht sich die Musik, umkreist sie, entfernt sich mitunter scheinbar von ihr, bis dann wie durch Zauberei die Musiker immer wieder genau an diesem Punkt zusammenkommen.

Ordnung der Talas

Dieses intuitive, magisch anmutende Zusammenspiel ist nur möglich, weil jeder Tala eine genau festgelegte Ordnung hat. Die Gesamtzahl der gleichmäßigen Pulse im Tala liegt meist zwischen sechs und sechzehn, gegliedert in Untergruppen aus 2ern, 3ern oder 4ern. In dieser Struktur wird jedem Pulsschlag auch ein bestimmter Klang zugeordnet, der in Konzerten auf einer Trommel gespielt wird. Dadurch erhält der Tala neben seiner mathematischen Klarheit eine betörende sinnliche Qualität und charakteristische Bewegung. Und genau diese Bewegung tickt beim Spielen exakt in den Köpfen der Musiker und der Kenner im Publikum und schafft so eine manchmal geradezu berauschende innere Verbindung.


3. Nord- und Südindien - Zwei große Traditionen

Gemeinsame Wurzeln

In der klassischen indischen Musik gibt es heute zwei große Traditionen, die sich in den verwendeten Instrumenten, im Repertoire, Vokabular und den musikalischen Formen deutlich unterscheiden: die Hindustani-Musik im Norden und die karnatische Musik im Süden. Sie haben aber gemeinsame Wurzeln im Sama-Veda, wo musikalische Regeln zur Verwendung von drei bis sieben Tönen bei der Rezitation von heiligen Texten des Rig-Veda beschrieben wurden. Beide Musiksysteme basieren auf Raga als melodischem Prinzip und auf Tala als rhythmischer Grundlage, sind einstimmig modal, orientieren sich am Gesang als Ideal, werden von professionellen Musikern mündlich überliefert, verwenden die sieben Tonsilben Sa, Re/Ri, Ga, Ma, Pa, Dha und Ni und legen großen Wert auf Improvisation. Erst etwa ab dem 12. Jahrhundert haben sich aus den gemeinsamen Elementen zwei verschiedene Traditionslinien entwickelt.

Hindustani-Musik

Die Hindustani-Musik wird nördlich der Bundesstaaten Karnataka und Andhra Pradesh in ganz Indien kultiviert, aber auch in Pakistan, Bangladesh, Nepal und Afghanistan. Sie enwickelte sich durch die Auseinandersetzung mit persischen Einflüssen, die durch die muslimischen Herrscher nach Nordindien kamen. Stars wie Ravi Shankar, Ali Akbar Khan und später Zakir Hussain haben sie im 20. Jahrhundert weltweit bekannt gemacht. Auch viele Nicht-Inder sind heute so fasziniert von der Hindustani-Musik, dass sie sie lernen und zusammen mit der enorm verbreiteten indische Diaspora dafür sorgen, dass man auch in Europa, Nordamerika, Japan, Australien und den arabischen Golfstaaten hochklassige Konzerte mit Hindustani-Musik erleben kann.  Wegen dieser großen Popularität werden sich die nächsten Folgen dieser Reihe ausführlicher den Stilen, Interpreten und Instrumenten der Hindustani-Musik widmen.

Karnatische Musik

Die karnatische Musik ist vor allem in den vier von dravidischen Sprachen geprägten südindischen Bundesstaaten Andhra Pradesh, Karnataka, Kerala und Tamil Nadu sowie im tamilischen Teil von Sri Lanka zu Hause. Ihr Kern sind die Gesangskompositionen großer Meister, sowohl im Unterricht als auch im Konzert. Dabei sind die musikalische Struktur und der Text gleichermaßen  wichtig. Selbst wenn karnatische Musik auf einem Instrument gespielt wird, orientiert man sich am Gesang - spezielle Instrumentalkompositionen sind nicht üblich. Improvisation in Raga und Tala nimmt weniger Raum ein als in der Hindustani-Musik und wird oft in die Komposition eingebunden. Es gibt aber mit Ragam Tanam Pallavi auch eine eigene Form der Improvisation, die aus drei aufeinander aufbauenden Elementen besteht: Im Ragam wird rein melodisch ohne rhythmische Bindung der Raga entfaltet, im Tanam werden die Raga-Melodien in einem rhythmischen Puls gespielt und im Pallavi gibt es eine Art wiederkehrenden kurzen Refrain, über den improvisiert wird.

Purandara Dasa und die großen Drei

Nachdem sich die karnatische Musik über mehrere Jahrhunderte eigenständig entwickelt hatte, wurden im 16. Jahrhundert von Purandara Dasa die Grundlagen für die heutige Praxis gelegt. Von ihm sind etwa 1000 Lieder überliefert, in denen er eine beispielhafte Verbindung von Ausdruck, melodischer Schönheit und rhythmischer Raffinesse schuf. In die Texte integrierte er Alltagsgeschichten und Umgangssprache, aber auch Erklärungen philosophischer Themen und machte die Musik so einem breiteren Publikum zugänglich. Er entwickelte aber auch eine Unterrichtsmethodik mit systematischen Übungen, nach der karnatische Musik bis heute gelehrt wird. Eine große Blütezeit erlebte die karnatische Musik im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit den drei Komponisten Tygaraja, Muthuswami Dikshitar und Shyama Shastri. Ihre Werke bilden den Kern des modernen Konzertrepertoires und sie werden teilweise fast wie Heilige verehrt. In ihren Liedtexten geht es meistens um religiöse oder philisophische Themen.

Karnatische Instrumente

Die Grundlage für die Musik bildet das Saiteninstrument Tanpura mit seinem langen Hals und kugeligen Resonanzkörper. Die offenen Saiten der Tanpura werden sacht und gleichmäßig angezupft, so dass sich ein kontinuierlicher Klangteppich ergibt. Auf der Geige lassen sich die gleitenden melodischen Bewegungen und die lang gehaltenen Töne und die rhythmische Artikulation der menschlichen Stimme besonders gut imitieren. Die Geige wird deshalb in der karnatischen Musik oft zur Begleitung des Hauptsängers (oder der Hauptsängerin) eingesetzt. Sie kann aber auch als Soloinstrument verwendet werden. Das verbreitetste Solo-Instrument ist die Saraswati-Vina, ein gegriffenes und gezupftes Saiteninstrument, das auf den ersten Blick der nordindischen Sitar ähnlich sieht. Dank großer Unterschiede in Bau und Spieltechnik hat die Saraswati-Vina aber einen ganz unverwechselbar eigenen  Klang. Wichtig für die karnatische Musik ist auch die rhythmische Begleitung. Das Hauptinstrument dafür ist die kräftige Quertrommel Mridangam, die auf beiden Seiten mit Fellen bespannt ist. Bei größeren Ensembles kommen dazu noch Ghatam, eine Art Tontopf, das kleine Tamburin Kanjira und die Maultrommel Morsing.

Karnatische Konzerte

Ein typisches karnatisches Konzert dauert etwa drei Stunden. Am Anfang stehen meist mehrere kürzere Stücke, in der Mitte ein langes Hauptstück mit Ragam Tanam Pallavi und zum Ende hin wieder mehrere kürzere und leichtere Stücke. Oft gibt es auch einen eigenen Percussion-Teil. Wenn mehrere Percussionisten mit dabei sind, ergeben sich darin oft mitreißende rhythmische Dialoge. Hochsaison für Konzerte ist jedes Jahr im Dezember und Januar die sechswöchige Madras Music Season in Chennai, eines der größten Kulturfestivals der Welt. In Mitteleuropa ist karnatische Musik dagegen leider nur selten live zu erleben.


4. Dhrupad, Khyal, Thumri & Instrumentalstil

Gesang - die Grundlage

In der klassischen nordindischen Musik gibt es eine ganze Reihe verschiedener Stile, in denen ein Raga vorgetragen werden kann. Jeder Stil hat seine eigenen Regeln im formalen Aufbau und in der Klangästhetik. Allen gemeinsam ist aber, dass Flexibilität und Nuancenreichtum der menschlichen Stimme das Ideal bilden, an dem sie sich orientieren.

Dhrupad - jahrhundertealte Tradition

Der älteste heute noch lebendige Stil ist der Dhrupad. Der Name leitet sich von dhruva pada = fester Vers ab. Dhrupad erlebte seine höchste Blüte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts am Hof des Großmoguls Akbar. Viele Musikerfamilien führen bis heute ihre Tradition auf Akbars legendären HofsängerTansen zurück, dem fast magische Fähigkeiten und die Erfindung vieler neuer Ragas zugeschrieben werden. Im Lauf der Jahrhunderte wurde Dhrupad allerdings von moderneren Stilen verdrängt. Er wird aber nach wie vor von einigen wenigen Familien kultiviert und hat sich im klassisch indischen Konzertleben eine ganz eigene Nische bewahrt. Viele Musiker studieren heute auch deshalb Dhrupad, weil darin ein sehr altes musikalisches und spirituelles Wissen bewahrt ist, das die Grundlage für alle anderen Stile bildet. Bekanntere Dhrupad-Musiker sind z.B. die Familien Dagar und Mallick und die Gundecha-Brothers.

Dhrupad - strenge Form & Erhabenheit

Typisch für den Dhrupad ist eine sehr strenge Form, die größten Wert auf die genaue Intonation jedes einzelnen Tones legt und den Raga systematisch Ton für Ton entfaltet - zuerst im frei rhythmischen Alap, und dann im pulsierenden Jor. Alap und Jor machen oft den größten Teil einer Dhrupad-Präsentation aus. Auf üppige Verzierungen der Töne wird dabei verzichtet - im Mittelpunkt steht die reine Schwingung, gesungen mit abstrakten Silben. Dadurch hat der Dhrupad meist einen sehr meditativen, ernsten und majestätischen Charakter. Erst gegen Ende einer Raga-Interpretation kommt die mächtige Quertrommel Pakhawaj dazu und es werden getragene Liedkompositionen mit ausgefeilten Texten vorgetragen. Improvisiert wird dann meist mit rhythmischen Variationen des Textes. Abgeschlossen wird oft mit einem kürzeren Lied in schnellem Tempo.

Khyal - Flug der Imagination

Der Khyal hat den Dhrupad im 19. Jahrhundert verdrängt und ist heute der verbreitetste Stil in der nordindischen Klassik. Das Wort kommt aus dem Arabischen und bedeutet Einfall, Idee oder Vorstellungskraft. Passend zu diesem Namen steht beim Khyal der kreative Genius des Solisten im Mittelpunkt. Begleitet wird Khyal außer von Tabla und Tanpura meist noch vom Streichinstrument Sarangi oder dem Tasteninstrument Harmonium. Berühmte Khyalsänger sind heute u.a. Pandit Jasraj, Ulhas Kashalkar, Ajoy Chakraborty und Rashid Khan. Auch Sängerinnen wie z.B. Kishori Amonkar, Ashwini Bhide-Deshpande, Veena Sahasrabuddhe, Prabha Atre, Parveen Sultana oder Shruti Sadolikar werden hoch geschätzt.

Khyal - flexible Form & kreative Freiheit

Anfangs gibt es meist nur einen sehr kurzen Alap, und schon nach wenigen Minuten kommt die Tabla dazu. Dabei wird ein extrem langsames Tempo gespielt, das dem Solisten nahezu unbegrenzte Freiheit gibt, sich systematisch der Raga-Entfaltung zuzuwenden, melodische und rhythmische Variationen durchzuspielen, immer komplexere Muster zu weben und schließlich mit virtuosen schnellen Läufen zu glänzen. Nach diesem ausführlichen und dramaturgisch geschickt gesteigerten langsamen Teil folgt meist eine schnelle Komposition, bei der noch einmal vor allem schnelle Läufe und rhythmische Variationen in höchster Virtuosität vorgeführt werden. Die Liedtexte spielen im Khyal nur eine untergeordnete Rolle - sie dienen eher als Silbenfundus für die Improvisationen und oft wird auch nur auf den Vokal a oder auf die Namen der Töne gesungen.

Thumri - romantische Liebesmystik

Thumri und verwandte Stile gelten nur als halb-klassisch, weil sich sich große Freiheiten bei die Behandlung der Ragas nehmen. Wichtiger ist im Thumri die hoch emotionale Interpretation der Liedtexte. Darin geht es meist um unerfüllte romantische Liebe, die symbolhaft für das nie ganz zu stillende Sehnen der Seele nach dem Göttlichen steht. Oft wird eine Textzeile in immer neuen Variationen wiederholt, um das ganze Spektrum der damit verbundenen Gefühle auszuloten. Dabei werden auch Töne verwendet, die eigentlich nicht in den Raga gehören, wenn es dem Ausdruck dienlich ist. Thumris werden oft von Khyal-Sängern am Ende eines Konzertes präsentiert. Die bekannteste lebende Thumri-Spezialistin ist heute Girija Devi.

Instrumentalstil - von allem das Beste

Auch die Instrumentalisten der indischen Klassik orientieren sich an der menschlichen Stimme als Ideal. Aus dem Dhrupad benutzen sie die systematische meditative Raga-Entfaltung in Alap und Jor. Aus dem Khyal verwenden sie die ausgedehnten, immer weiter verdichteten Improvisationen über ein langsames Grundtempo und dann die schnelle Form mit virtuosen Läufen als furiosem Finale. Und aus dem Thumri kommt eine filigrane, üppige und emotionale Ornamentierung. Zusätzlich nutzen sie aber auch die technischen Besonderheiten des jeweiligen Instrumentes - auf Sitar und Sarod z.B. die rhythmischen Anschlagmuster und die groovenden Impulse der offenen Bordunsaiten. Die moderne instrumentale Konzertpraxis verbindet damit die Stärken der verschiedenen Stile in abwechslungsreicher Vielschichtigkeit und ist so für Laien oft leichter zugänglich als reine Gesangskonzerte. Kein Wunder also, dass die echten Weltstars der indischen Klassik, wie z.B. Ravi Shankar, heute eher Instrumentalisten sind als Sänger. Auf einige dieser Meister des Raga geht die nächste Folge dieser Reihe ein.


5. Interpreten - Meister des Raga

Im 20. Jahrhundert wurden Instrumental-Virtuosen zu großen Stars der indischen Klassik. Ihre neu entwickelten Formen prägen alle heute aktiven Musiker. Einige dieser Pioniere stellen wir hier vor.

Ravi Shankar - der Pionier im Westen

Der Sitarist und Komponist Ravi Shankar (*1920) hatte schon als Teenager die Vision, indische Musik in den Westen zu bringen. Nach seiner Lehrzeit bei Altmeister Allauddin Khan leitete er in den 1950er Jahren das Orchester von All India Radio, schrieb Filmmusiken für den oscar-prämierten Regisseur Satyajit Ray und begann in Europa und Nordamerika zu konzertieren und mit Jazzmusikern zu arbeiten. Dank seines Einfühlungsvermögens, seiner Kreativität und kommunikativen Begabung gelang es Ravi Shankar, immer weitere Kreise für seine Musik zu begeistern. In den 1960ern erlangte er Kultstatus durch das Zusammenspiel mit dem Star-Geiger Yehudi Menuhin, als Lehrer von Beatle George Harrison und mit seinem Auftritt beim legendären Woodstock-Festival. Später konzentrierte er sich mehr darauf, zu unterrichten, klassisch zu konzertieren und zu komponieren - u.a. für den oscar-prämierten Film Gandhi und in Zusammenarbeit mit Minimal-Komponist Philip Glass. Der Klang seiner Sitar ist heute für viele westliche Ohren der Inbegriff indischer Musik schlechthin.

Vilayat Khan - die singende Sitar

Während Ravi Shankar sich mit neuen kreativen Ideen beschäftigte und indische Musik weltweit populär machte, bewegte sich Vilayat Khan (1928 - 2004) ganz im Rahmen der Tradition und revolutionierte das Sitarspiel sozusagen von innen heraus. Er entstammte einer alten Musikerdynastie, verlor aber schon früh seinen Vater. Dadurch hatte er zwar von Kindesbeinen an eine solide klassische Musikausbildung, genoss aber als junger Mann auch die Freiheit, einen ganz unverwechselbar eigenen Stil zu entwickeln. Wie keinem anderen vor ihm gelang es Vilayat Khan, mit seinem klaren, wenig schnarrenden Ton und dem Spiel mit gezogenen Tönen seine Sitar zum Singen zu bringen. Damit fand er zahlreiche Schüler und Nachahmer und wurde prägend für fast alle Sitaristen nach ihm. In der Tradition von Vilayat Khan im engeren Sinn stehen heute sein Bruder Imrat Khan, dessen Söhne Nishat und Irshad Khan, seine Söhne Shujaat und Hidayat Khan, sein Cousin Rais Khan sowie Shahid Parvez und Budhaditya Mukherjee.

Nikhil Banerjee - die vollendete Form

Wie Vilayat Khan war auch der Sitarist Nikhil Banerjee (1931 - 1986) ein Vetreter reiner indischer Klassik. Er war aber auch Schüler von Allauddin Khan, dem unkonventionellen, experimentierfreudigen Altmeister, und bekam dort wesentliche Impulse zur Entwicklung seines ganz eigenen Stils. Darin integrierte Nikhil Banerjee die gesangliche Spielweise und die schnellen Läufe eines Vilayat Khan ebenso wie die rhythmische Rafinesse eines Ravi Shankar und verband die meditative Raga-Entfaltung und strenge Form des Dhrupad mit der Eleganz und Kreativität des Khyal und der romantischen Emotionalität des Thumri. Diese Synthese gilt vielen bis heute als vollendete Form und Nikhil Banerjee als größter Sitarmeister des letzten Jahrhunderts. Von seiner Klangästhetik und seinem Formsinn geprägt sind heute vor allem die Sitaristen Kushal Das, Partha Bose, Partha Chatterjee sowie sein Sohn Purbayan Chatterjee.

Ali Akbar Khan - die Tiefen der Seele

Als Sohn von Altmeister Allauddin Khan war das Leben von Ali Akbar Khan (1922 - 2009) praktisch von Geburt an erfüllt von Musik. Die eruptive Energie und zugleich kristallene Klarheit seines Spiels auf der bundlosen Laute Sarod zog die Menschen in einen hypnotischen Strudel, der an die tiefsten Gründe der Seele rührte. Der Geigenvirtuose Yehudi Menuhin hielt ihn schlicht für den größten Musiker der Welt. Ali Akbar Khan schrieb zwar auch Filmmusiken und spielte mit Jazzmusikern, blieb aber immer tief in der indischen Klassik verwurzelt. In den 1960er Jahren ließ er sich in Kalifornien nieder und widmete den größten Teil seiner zweiten Lebenshälfte der Mission, seine Musik an Schüler aus aller Welt weiterzugeben. Echos seines Sarodspiels sind heute bei seinen Söhnen Aashish und Alam Khan und bei Musikern wie Tejendra Narayan Mazumdar oder Ranajit Sengupta zu hören.

Amjad Ali Khan - höfische Eleganz

Neben Ali Akbar Khan hat vor allem Amjad Ali Khan (*1945) das Sarodspiel der letzten Jahrzehnte geprägt. Er stammt aus einer alten Familie von Hofmusikern, die wesentlich zur Entwicklung der modernen Sarod beigetragen hat. Makellose Technik und bezwingende Eleganz sind die Markenzeichen seines Stils. Amjad Ali Khans Söhne Ayaan und Amaan führen die Familientradition in der nächsten Generation fort.

Hariprasad Chaurasia - Krishnas Flöte

Vor allem Dank Hariprasad Chaurasia (*1938) ist die Bambusflöte Bansuri, früher ein reines Folk-Instrument, heute ein voll anerkanntes klassisches Solo-Instrument. Ihm gelang es, auf einer großen, tiefen Bansuri das gesangliche Spiel im Khyal-Stil durch neue Anblastechniken mit der rhythmischen Komplexität des Dhrupad-Stils zu verbinden und so eine einzigartig vielschichtige Synthese zu schaffen. Darüber hinaus ist Hariprasad Chaurasia aber auch als Flötist und Komponist für zahlreiche Bollywood-Filme aktiv gewesen und hat mit großen Musikern aus aller Welt in Fusion-Projekten gespielt, u.a. mit John McLaughlin und Jan Garbarek. Hariprasads Spiel mit seinem einschmeichelnden Klang, grooviger Rhythmik und melodischer Vielschichtigkeit ist heute vielleicht die am leichtesten zugängliche Form großer indischer Klassik und hat eine ganze Generation von Bansurispielern geprägt, Seine Ideen werden weitergeführt von Flötisten wie Rakesh Chaurasia, Rupak Kulkarni, Ronu Mazumdar, Nityanand Haldipur und Ragunath Seth.

Shivkumar Sharma - der Duft von Kashmir

Die schillernden Klangkaskaden des indischen Hackbretts Santur sind assoziiert mit der reinen Klarheit der Berge im nordindischen Kaschmir. Shivkumar Sharma (*1938) gelang es mit neuartigen Spieltechniken, die Santur auch für klassische Ragas salonfähig zu machen. Sein gefälliger Klang spricht die Herzen an und seine vielfältigen rhythmischen Möglichkeiten sorgen für spannende Komplexität. Neben seiner klassischen Karriere war Shivkumar Sharma aber auch zusammen mit Hariprasad Chaurasia als Duo Shiv-Hari in zahlreichen Bollywood-Filmen erfolgreich. Sein Sohn Rahul sowie Ulhas Bapat, Bhajan Sopori und Satish Vyas sind heute bedeutende Santurmeister.

Bismillah Khan - der Ruf von Varanasi

Der Shahnaispieler Bismillah Khan (1916 - 2006) war einer der größten Charismatiker der indischen Klassik. Obwohl selbst frommer Moslem verbrachte er den größten Teil seines Lebens in Varanasi, der heiligen Stadt der Hindus am Ufer des Ganges und nahm dort rege am einzigartigen kulturellen Leben teil. So verkörperte Bismillah Khan in seiner Person wie in seinem zugleich majestätischen und zutiefst heiteren Spiel ebenso den Geist von Varanasi wie das Ideal eines friedlichen Zusammenlebens der Religionen aus dem Geist einer tiefen Spiritualität. Bekannte Shahnaispieler sind heute Daya Shankar und Ali Ahmed Hussain.

Zakir Hussain - Magie der Tabla

Eigentlich ist die Tabla nur eine Begleitinstrument - aber unter den Händen von Zakir Hussain (*1951) stiehlt sie manchem Solisten die Schau und wird selbst zum heimlichen Star. Nachdem er von frühester Kindheit an bei seinem Vater Alla Rakha die traditionelle Tabla-Kunst erlernt hatte, ging Zakir Hussain schon als Teenager in die USA und wurde dort neben John McLaughlin und L. Shankar einer der Köpfe der legendären Gruppe Shakti. In diesem und vielen weiteren bahnbrechenden Weltmusikprojekten erwies sich Zakir Hussain sowohl als weltoffener, kreativer Komponist und Improvisator als auch als brillanter Entertainer. Sein Charisma, seine ansteckende Spielfreude und sein Reichtum an klanglichen Nuancen haben eine ganze Generation von Tablaspielern geprägt. Heute lässt sich kaum ein Tablaspieler nennen, der nicht von Zakir Hussain beeinflusst wäre.


6. Instrumente - Magie des Klangs

Die Instrumente der klassischen indischen Musik haben eine ganz eigene unverwechselbare Klang-Magie. Besonders typisch sind ihr schillernder Obertonreichtum, der durch Brücken mit raffiniert geschliffener Wölbung und viele Resonanzsaiten entsteht, und die Fähigkeit, viele Facetten der menschlichen Stimme zu imitieren. Obwohl man indische Klassik auch auf Instrumenten wie Geige oder Saxofon spielen kann, kommen ihre Besonderheiten auf den in Indien selbst entstandenen Instrumenten besonders zur Geltung.

Tanpura - Symbol der Ewigkeit

Noch bevor der erste Ton eines Ragas erklingt, ist in klassischer indischer Musik fast immer ein feiner schimmernder Klangteppich zu hören, der während der ganzen Raga-Darbietung im Hintergrund unverändert weiterläuft. Er wird auf der Tanpura gespielt, einem der zugleich unbekanntesten und wichtigsten traditionellen Instrumente. Die Tanpura definiert mit ihrem immer gleich bleibenden Bordunklang den Grundton - sie ist das Fundament, auf dem der ganze filigrane Raga-Tempel aufbaut; die Leinwand, auf der das Raga-Gemälde gemalt wird; die Erde, auf der der Raga tanzt. Tanpuras haben meist vier bis fünf Saiten, die immer nur offen in gleich bleibendem Rhythmus gezupft werden. Der Anschlag erfolgt dabei so weich, dass die Schwingungen der einzelnen Saiten zu einem kontinuierlich schillernden Dauerklang zu verschmelzen scheinen. So symbolisiert die Tanpura den ewigen Urgrund des Seins, aus dem die gesamte (musikalische) Schöpfung hervorgeht. Da Tanpuras auf den jeweiligen Grundton von Sänger oder Instrument gestimmt werden müssen, gibt es sie in allen möglichen Größen und Formen. Typisch ist die Bauart mit großem getrockneten Kürbis als Resonanzkörper und daran angesetztem langen Hals aus Holz. Im Konzert spielen meist Schüler der Hauptkünstler die Tanpura.

Sitar - der Klang Indiens

Wohl kein anderes Instrument wird als so typisch indisch empfunden wie die Sitar. Vor allem durch den weltbekannten Sitarmeister Ravi Shankar ist ihr sirrender Klang heute der Inbegriff indischer Musik an sich. Sie ist ein technisch anspruchsvolles Soloinstrument mit meist 20 Saiten. Davon werden allerdings nur sieben als Spielsaiten verwendet. Die restlichen 13 werden nicht angeschlagen, sondern schwingen mit, wenn ihr Ton auf den Melodiesaiten gespielt wird. So sorgen diese Resonanzsaiten für eine Art eingebauten Halleffekt. Ähnlich wie bei der Tanpura setzt am Kürbisresonator ein langer hölzerner Hals an, über den die Saiten laufen. Viele Sitars haben einen zusätzlichen zweiten Resonator oben am Hals. Quer über den Hals gebunden sind metallene Stege (Bünde), auf die man die Saiten runterdrückt, um die Tonhöhe zu verändern - ähnlich wie bei einer Gitarre. Man kann die Tonhöhen aber auch fließend verändern, indem man die auf den Bund gedrückte Saite seitlich wegzieht und so ihre Spannung erhöht. Mit dieser Technik lassen sich besonders gut die gleitenden Tonbewegungen der menschlichen Stimme nachempfinden - schließlich leitet sich die indische Klassik vom Gesang ab. Sie ist allerdings auch besonders schwierig zu beherrschen. Aber keine Angst - auf einer gut gestimmten Sitar können auch Anfänger schnell faszinierende typisch indische Klänge erzeugen!

Sarod - die unbekannte Exzellenz

Viel unbekannter als die Sitar ist hierzulande die Sarod - obwohl sie in Indien den gleichen hohen Status als Soloinstrument genießt. Ihr Klang ist runder und brillanter als bei der Sitar. Der Anschlag mit einem dicken Plektrum aus Kokosnuss erlaubt ein extrem dynamisches rhythmisches Spiel, das durch die Bespannung des Korpus mit einer Ziegenhaut eine sehr kraftvolle Lautstärke entfalten kann. Einzigartig sind auch die feinen melodischen Artikulationsmöglichkeiten: Die vier Melodiesaiten werden mit den Fingernägeln auf ein bundloses Griffbrett aus extrem glattem verchromtem Edelstahl gedrückt. Jede kleine Positionsänderung des Fingernagels verändert dabei die Tonhöhe - so   ergeben sich durch Rutschen entlang der Saiten faszinierende Ausdrucksmöglichkeiten. Die Sarod ist ein Instrument, das unbedingt zu entdecken lohnt!

Vina - Königin der Instrumente

Das Wort Vina ist eigentlich ein Oberbegriff für verschiedene Saiteninstrumente. Am bekanntesten sind die Rudra-Vina in Nordindien und die Saraswati-Vina in Südindien. Die Rudra-Vina ist mehrere Jahrhunderte alt, galt lange Zeit als edelstes aller Instrumente und wird heute auch als eine der Vorformen der Sitar gesehen. Ihre zwei großen Kürbis-Korpusse sind an einem hölzernen Resonanzrohr befestigt, über das die Saiten laufen und an dem die Bünde sitzen. Die Rudra-Vina hat einen archaischen, majestätischen Charakter und ist heute leider fast ausgestorben. Sehr lebendig ist dagegen die Saraswati-Vina, wichtigstes Soloinstrument der karnatischen Musik und damit die Entsprechung zur nordindischen Sitar. Auch ihre Form mit einem kugeligen Korpus, langem Hals, Bünden, Wirbeln und zweitem oberen Resonator ähnelt der Sitar. Allerdings hat die Saraswati-Vina keine Resonanzsaiten und wird aus anderen Materialien gefertigt. Auch in Spieltechnik und musikalischem Repertoire unterscheidet sie sich deutlich von ihrer nordindischen Schwester.

Bansuri - Krishnas Verlockung

Die Bansuri ist eigentlich nichts weiter als ein einfaches Bambusrohr mit sechs bis sieben eingebrannten Grifflöchern und einem Anblasloch. Sie wird wie eine westliche Querflöte angeblasen und ist in der Mythologie das Instrument des Gottes Krishna - mit seiner kleinen, hoch klingenden Bansuri betörte er als junger Mann die Herzen der Kuhhirtinnen und lockte sie zu erotisch gefärbten Spielen. Jahrhundertelang galt die Bansuri wegen ihrer Einfachheit als reines Volksinstrument - zwar beliebt, aber in seinen Möglichkeiten sehr begrenzt. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts begannen Musiker, auch klassiche Ragas auf besonders großen, tief, warm und rund klingenden Bansuris zu spielen. Da die Bansuri keine Mechanik hat, müssen für diese großen Instrumente schwierige Griffe mit extrem gespreizten Fingern geübt werden. Auch die Anblastechnik hat sich durch die Verwendung als klassisches Soloinstrument sehr erweitert und erlaubt heute raffinierte rhythmische Variationen.

Santur - der Duft von Kashmir

Die Santur ist ursprünglich ein Volksmusikinstrument aus Kaschmir, der bergigen nördlichen Grenzregion zwischen Indien und Pakistan. Ihre bezaubernden, kristallklaren Klangkaskaden haben ihr aber inzwischen Fans in aller Welt gewonnen. Der Klangkörper ist ein trapezförmiger Holzkasten. Darüber sind quer insgesamt meist um die 90 Saiten gespannt, die über kleine Stege laufen. Je drei nebeneinander liegende Saiten werden auf den gleichen Ton gestimmt und immer zusammen angeschlagen. Zum Klingen bringt man sie mit zwei Holzschlägeln, die  man rechts und links zwischen den Fingern hält. Die vorher gestimmten Tonhöhen können beim Spielen nicht verändert werden - es sind keine gleitenden Tonbewegungen möglich. Dank der raffinierten rhythmischen Möglichkeiten und verfeinerter neuer Spieltechniken hat die Santur aber in den letzten Jahrzehnten trotzdem einen Platz unter den klassischen Melodie-Soloinstrumenten gewonnen.

Sarangi - Gesang der Seele

Der näselnd singende Klang des gestrichenen Saiteninstruments Sarangi ist eines der faszinierendsten Phänomene in der indischen Musik. Sie hat mehr Resonanzsaiten als jedes andere indische Instrument und dadurch einen unerreichten Nachhall - zumal sich die Schwingung der Melodiesaiten durch die dünne Ziegenhaut auf dem Holzkorpus direkt zu den Resonanzsaiten überträgt. Die Melodie spielt man auf drei dicken Darmsaiten. Die Tonhöhen verändert man, indem man diese Saiten ohne Griffbrett oder Bünde seitlich mit dem Nagelbett abdrückt. Diese einzigartige Spieltechnik und die sehr kurzen Wege von Ton zu Ton sorgen für eine unschlagbare Flexibilität in der Artikulation. Dadurch ist die Sarangi so gut wie kein anderes Instrument in der Lage, alle Feinheiten der menschlichen Stimme zu imitieren. Traditionell wurde sie deshalb meist zur Gesangsbegleitung eingesetzt. Aber inzwischen ist sie auch als Soloinstrument zu hören. Wegen der extrem anspruchsvollen Handhabung spielen heute allerdings leider immer weniger Musiker Sarangi.

Harmonium - Europa in Indien

Das Harmonium hat die Sarangi in der Gesangsbegleitung weitgehend verdrängt - ein ungemein praktisches, einfach zu spielendes Instrument. Erfunden wurde es im 19. Jahrhundert in Europa und dann nach Indien importiert und modifiziert. Im Westen ist es inzwischen praktisch ausgestorben, aber in Indien ist es heute für alle klassischen und semi-klassischen Gesangsstile ebenso das universale Begleitinstrument wie für spirituelle Lieder verschiedenster Traditionen - von Bhajan-, Kirtan- und Mantragesängen bis zu Qawwali und Shabad. Das Harmonium muss nicht gestimmt werden, man braucht keine Übung, um überhaupt einen Ton zu erzeugen und man kann eine Gesangsstimme gut damit unterstützen, ohne ihr dabei in die Quere zu kommen. Man pumpt einfach mit einer Hand den an der Rückseite angebrachten Blasebalg und drückt mit der anderen den gewünschten Ton auf der Tastatur - ideal für jedermann. Als klassisches Soloinstrument wird es bisher aber nicht verwendet.

Tabla - Universum der Rhythmen

Schneller als die Augen folgen können tanzen die Finger über die Tablas und entfachen einen rhythmischen Wirbelsturm, den man einem einzelnen Musiker nie zugetraut hätte. Wer je einen guten Tablaspieler live erlebt hat, dürfte das Erlebnis nie vergessen. Die Tabla ist eines der komplexesten Rhythmusinstrumente der Welt und bietet eine so große Fülle von Spielmöglichkeiten wie sonst eine ganze Percussion-Gruppe. Sie besteht aus zwei Handpauken, die immer als Paar zusammen eingesetzt werden. Die kleinere ist aus schwerem Holz und kann sowohl mehrere genau stimmbare glockenklare Töne erzeugen als auch geräuschhafte Slaps und Taps. Die größere bauchige Pauke, meist aus verchromtem Kupfer, sorgt für die Bässe. Durch Druck und Bewegung der auf dem Fell liegenden Spielhand kann die Tonhöhe mit unglaublicher Flexibilität verändert werden, so dass das Instrument regelrecht zu sprechen scheint. Entscheidend für den Klang ist eine schwarze Paste aus gekochter Reismasse und Eisenspänen, die in einem komplizierten Arbeitsprozess auf die Felle aus Ziegenhaut aufgetragen wird. Tablasounds gibt es heute auch als digitale Samples, die mittlerweile in den verschiedensten Musikstilen eingesetzt werden.


7. Tradition & Erneuerung
Die Feinheiten der klassischen indischen Musik lassen sich in Notenschrift kaum darstellen. Deswegen wird die in Indien entwickelte Buchstabennotation nicht als möglichst genaue Spielanweisung benutzt (wie in der westlichen Klassik), sondern nur als Gedächtnisstütze. Aber wie lernt man dann diese Musik und wie wird sie überliefert?

Mündliche Überlieferung - Guru Shishya Parampara

Der Schlüssel dazu ist die mündliche Überlieferung in der Guru Shishya Parampara. Guru bedeutet Lehrer, Shishya heißt Schüler und Parampara bezeichnet die Weitergabe von Wissen von einer Generation zur nächsten. Nicht nur Musik wird so tradiert, sondern z.B. auch spirituelles, medizinisches oder handwerkliches Wissen. Da in allem Wissen letztlich ein göttlicher Ursprung gesehen wird, ist seine Übermittlung ein heiliger Akt. Dafür ist sogar eine eigene Göttin namens Saraswati zuständig - nicht nur die Göttin der Weisheit und des Lernens, sondern auch der Sprache und der Musik! Der Guru ist der Hort dieses Wissens und der Schüler nimmt es idealerweise gläubig und gehorsam, mit Ehrfurcht und Inbrunst, Geduld und Vertrauen in sich auf, bewahrt es und gibt es eines Tages, wenn er selbst Guru geworden ist, unverfälscht weiter.

Traditionelle Ausbildung - Weg zur Meisterschaft

Aus dem Familien- oder Bekanntenkreis wählt der Musik-Guru von Zeit zu Zeit besonders talentierte Jungen aus und nimmt sie in seinen Haushalt auf. Er versorgt sie wie eigene Kinder und übernimmt die volle Verantwortung für ihre musikalische und persönliche Entwicklung. Sein Wissen und sein Kunstverständnis - und damit sein Lebensinhalt - können nur weitergetragen werden, wenn er die richtigen Schüler wählt und sie entsprechend ausbildet. Mehrere Jahre hindurch erhalten die Schüler tägliche Unterweisung, üben unter den Ohren des Gurus und lauschen seinem Üben. Im Vorspielen und Nachspielen, ohne Noten oder andere schriftliche Aufzeichnungen, lernen sie die Spieltechnik des Instruments, einen umfangreicher Fundus von Kompositionen in verschiedenen Ragas und Talas und die Fähigkeit zur Improvisation. Wenn ein Schüler Konzertreife erreicht hat, nimmt der Guru ihn mit auf die Bühne und spielt mit ihm zusammen im Duett. Sein Prestige setzt er damit ein, um einen würdigen Nachfolger bekannt zu machen und ihm künstlerische Anerkennung zu verschaffen.

Technik - Training und Struktur

Für die Entwicklung der technischen Meisterschaft gibt es einen umfangreichen Kanon von Übungen mit Tonleitern, Rhythmus- und Melodieformeln, die auch von großen Meistern regelmäßig im Hinblick auf Kraft, Schnelligkeit, Präzision und Ausdauer durchexerziert werden. Die Übungen sind aber nicht nur reines Techniktraining, sondern schleifen auch melodische und rhythmische Strukturen ein, die dann in der Improvisation benutzt werden können. Gleichzeitig bilden sie Wahrnehmungsraster aus, die das musikalische Geschehen mental strukturieren. Dadurch lernt man, komplexe Zusammenhänge Tonfolgen und Rhythmen als Sinneinheiten zu verstehen und zu benutzen.

Kompositionen - Essenz der Ragas

Kompositionen bestehen meist nur aus zwei bis vier kurzen strophenartigen Melodielinien. Sie sind sozusagen eine aufs Wesentlichste konzentrierte Miniaturdarstellung eines Ragas. Während der Raga selbst sich nie endgültig fixieren und erschöpfend beschreiben lässt, bietet die Komposition ein handliches Vorbild, das durch die Tradition autorisiert ist und an dem man sich orientieren kann. Je mehr Kompositionen der Schüler mental präsent hat, um so plastischer und präziser wird die Raga-Interpretation sein, die er daraus improvisierend entwirft. Die Kompositionen gilt es deshalb detailgetreu auswendig zu lernen und möglichst ein Leben lang im Gedächtnis zu behalten.

Improvisation - Spontaneität mit System

Für die Entwicklung der Improvisationsfähigkeit ist es wichtig, von der Musik so viel wie möglich umgeben zu sein, sie beständig auf allen Ebenen in sich aufzunehmen, egal wie weit man sie schon bewusst versteht. Wie bei der Sprachentwicklung des Kleinkindes oder beim Erlernen einer Fremdsprache muss man so viel wie möglich hören, hören, hören. Immer wieder erleben, wie es richtig geht. Erleben durch das Ohr. Wahrnehmen. Mitfühlen. Sich Einschwingen. Aber auch ein bewusstes Lernen gehört dazu: Zunächst improvisiert der Guru eine Melodielinie nach der anderen und der Schüler spielt sie als getreues Echo nach. Ist diese Stufe gemeistert, spielt der Schüler die Phrasen des Gurus nicht mehr als Echo, sondern als Schatten, dicht folgend, fast zeitgleich. Danach beginnt der Schüler, die Melodien des Gurus selbständig mit eigenen Ideen weiterzuführen. Schließlich spielt nur noch der Schüler, schöpfend aus der Erinnerung an zahllose frühere Improvisationen, an die geübten Formeln, an die gelernten Kompositionen; und der Guru hört zu, nickt, kommentiert, gibt nur noch kleine Korrekturen und segnet seinen Schüler, der nun selbst ein Meister geworden ist.

Lernen heute - Ideal und Wirklichkeit

In unserer globalisierten Gegenwart verändert sich das traditionelle Indien in immer höherem Tempo. Der ökonomische Druck nimmt ebenso zu wie die Abkehr von alten Traditionen und der Wunsch nach individueller Entfaltung. Klassische Musiker werden nicht mehr von Fürsten unterhalten, sondern müssen sich auf dem freien Markt behaupten. Das Ideal der Guru Shishya Parampara wird zwar nach wie vor hochgehalten, aber es wird immer schwieriger, sie in alter Form weiterzuführen. Unterricht muss bezahlt und stundenweise begrenzt werden. Die wenige Zeit, die Guru und Schüler miteinander haben, muss möglichst intensiv genutzt werden. Digitale Aufnahmegeräte und die überall zugänglichen Aufnahmen großer Meister ersetzen teilweise den persönlichen Kontakt und helfen den Schülern, selbständiger zu lernen. Neben den Schützlingen etablierter Gurus haben so auch talentierte Außenseiter die Chance, es als Musiker ganz nach oben zu schaffen.

Tradition im Wandel - Schlüssel zur Lebendigkeit

Sicherlich ist klassische indische Musik heute weltweit nicht mehr so angesagt wie Ende der 1960er und in den 1970er Jahren. Aber als Vorreiter dessen, was inzwischen unter dem Namen Weltmusik ein eigenständiger Bereich der globalen Musikindustrie geworden ist, hat sie sich in Japan, Nordamerika, Australien und Europa eine feste Nische im Konzertleben erobert. Und in Indien selbst steht sie nach wie vor in voller Blüte. Meister der indischen Klassik sind bekannte Stars, über die auch in den Klatschspalten der Zeitungen berichtet wird. Und viele großartige jüngere Musiker tragen die Tradition weiter ins 21. Jahrhundert. Möglich ist das wohl nur, weil die indische Klassik einerseits tief in der indischen Kultur verwurzelt ist und mit Raga und Tala einen einzigartigen festen Kern hat, andererseits aber nie in der bloßen Wiederholung festgefügter Formen erstarrt ist. Ein Musiker, der nur genau wiederholen würde was sein Guru ihn gelehrt hat, wäre nichts weiter als ein Papagei. Jede Raga-Performance erfordert eine kreative Interpretation, in der Raga und Tala durch die unwiederholbare Qualität des gegenwärtigen Moments mit neuem Leben erfüllt werden. So lange der indischen klassischen Musik diese Balance zwischen Traditionsbewahrung und Erneuerung gelingt, wird sie ihre bezaubernde Frische bewahren und Menschen aus aller Welt weiter inspirieren und beglücken.