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Klangarbeit mit Ragas

von Thomas Meisenheimer
(Februar 2011)

1. Bhoopali – Mutter Erde
2. Malkauns - nächtliche Liebeserklärung
3. Yaman - Feur der Sehnsucht

Seit über 20 Jahren versuche ich nun, das Phänomen der indischen Ragas zu ergründen. Immer wieder habe ich Pandits und Ustads mit meiner Frage gelöchert, welche Wirkung der eine oder andere Raga denn nun habe und ob sich Ragas als klangtherapeutisches Mittel einsetzen lassen. Die Antworten waren so unterschiedlich, dass ich mich gezwungen sah, selber in die Welt der Ragas hineinzulauschen und ihnen "auf den Zahn zu fühlen". So fand ich in ihnen die Stimmungen der Tages- und Jahreszeiten wieder, aber auch starke Gefühlsbewegungen und die Sehnsucht nach einer Einheitserfahrung. Klar wurde, dass die Ragas für mich zwar immer wieder eine ähnliche Wirkung haben, doch wird diese letztendlich sehr individuell wahrgenommen. Deshalb lässt sich auch keine allgemeine "Raga-Hausapotheke" erstellen. In der Reihe "Klangarbeit mit Ragas" werden vielmehr ganz persönliche Erfahrungsberichte vorgestellt, die zu eigenem Ausprobieren, Erleben und Erforschen anregen sollen. Die erste Folge behandelt Raga Bhupali.


1. Bhupali

Das Wort Bhupali kann man mit "Mutter Erde" übersetzen. Raga Bhupali verwendet eine pentatonische Tonleiter mit Grundton (Sa), großer Sekunde (shuddha Re), großer Terz (shuddha Ga), Quinte (Pa) und großer Sexte (shuddha Dha). In der südindischen karnatischen Musik heißt diese Tonskala Raga Mohanam. Es dürfte sich um eine sehr alte Skala handeln, die in verschiedensten Kulturen überall auf der Welt verwendet wird.

Für mich persönlich erzeugt die Pentatonik dieses Ragas und das Fehlen der Quarte (Ma) und der Septime (Ni) ein Gefühl von Stabilität, Ordnung und Leichtigkeit. Die große Terz als Hauptton (Ga-Vadi) steht hier im Fokus und stärkt durch ihre Charakteristik das Selbstvertrauen und das Selbstbewusstsein. Die seelische Nachreifung wird angeregt, eine Aussöhnung mit dem inneren Kind kann stattfinden. Bhupali hilft mir bei depressiven Verstimmungen und unterstützt mich, wieder eine positive Lebenseinstellung zu finden. Der Raga gibt mir Trost und wirkt besänftigend. Die Klangstruktur des Ragas wirkt für mich verspielt und fröhlich. Sie hat etwas Naives, Unschuldiges und Beschwingendes an sich. Nach dem Spielen oder Hören von Bhupali fühle ich mich oft leicht und unbeschwert. Es ist, als würde ein gütiger Vater zu seinem Kind sprechen. Raga Bhupali vermittelt mir immer wieder ein Gefühl von Schutz und liebevoller Autorität, erfüllt mich mit Mut und Kraft und hilft mir auf eigenen Beinen zu stehen.



2. Malkauns - nächtliche Liebeserklärung

Der pentatonische Mitternachts-Raga Malkauns ist wie eine nächtliche Liebeserklärung. Er wird oft auch Malkosh genannt - darin steckt das Wort "Kaushika", das man mit "Leidenschaft" übersetzen kann. Die "Klangformel" besteht aus Grundton (Sa), kleiner Terz (komal Ga), Quarte (Ma), kleiner Sexte (komal Dha) und kleiner Septime (komal Ni). In der südindischen karnatischen Musik heißt diese Tonskala Raga Hindolam. Die Ragamala Miniatur-Malerei stellt Malkauns häufig als adeligen Herrn dar, der berauschende Betelnuss genießt, von Dienerinnen umgeben ist und manchmal auch ein Saiteninstrument in der Hand hält. Mitunter wird Malkauns aber auch als meditierender Yogi oder als leidenschaftlicher Liebhaber gezeigt.

Das Fehlen der Quinte und der Sekunde gibt diesem Raga einen sehr besinnlichen und kontemplativen Charakter. Komal Ga drückt hier für mich die Leidenschaft aus. Die Quarte Ma ist der Ruhepol, leicht berauscht, kontemplativ. Komal Dha ruft die Dunkelheit hervor, die Mystik der Nacht und Komal Ni das Sinnliche. Der Raga erzeugt eine innere dienende Haltung und öffnet mir immer wieder die Herzenstüre. Malkauns ist wie ein Dankgebet, kraftvoll und in sich ruhend. Wenn ich diesen Raga höre, kommen sehr leicht alle Gedanken zur Ruhe. Malkauns wirkt für mich entspannend und trancefördernd. Diese ausgleichende und harmonisierende Wirkung schätze ich sehr nach einem geschäftigen Tag. Malkauns hat für mich auch etwas Mächtiges, Ehrfürchtiges und Würdevolles. Es spiegelt sich hier die Hingabe und die bedingungslose Liebe an einen Meister wider. Dies wird sehr schön in dem alten indischen Film 'Baiju Bawra' deutlich. Im Moment der Rückkehr des Sänger Baiju zu seinem Musik-Meister Swami Haridas nach langer Trennung ist der legendäre Playback-Sänger Mohamed Rafi mit Raga Malkauns zu hören.


3. Yaman - Feur der Sehnsucht

Raga Yaman (oder Iman) ist vielleicht der bekannteste nordindische Raga. Sein Ursprung ist nicht wirklich geklärt. Manche vermuten, dass der Raga aus Persien kam. Andere sehen einen vedischen Ursprung und behaupten, dass die Tonleiter früher Raga Yamuna hieß. Die Klangstruktur von Raga Yaman basiert auf der Tonika (Sa), großen Sekund (shuddha Re), großen Terz (shuddha Ga), Tritonus / erhöhten Quarte (tivra Ma), Quinte (Pa), großen Sexte (shuddha Dha) und großen Septime (shuddha Ni). Man findet diese Tonleiter als lydischen Modus auch in der griechischen Musik.

Mit Raga Yaman beginnt oft die klassische indische Musik-Ausbildung, denn Yaman wird als Schlüssel für alle anderen Ragas angesehen. Musikpsychologisch gesehen schafft er die Voraussetzung, dass der eigentliche Gehalt der indischen Musik von Herz zu Herz weitergegeben werden kann, indem er das Herz öffnet und reinigt und eine Sehnsucht erzeugt, tiefer in das Mysterium der Musik einzudringen. Für mich ist Raga Yaman wie ein Minnegesang, ein Werben um die unerreichbare Dame. Diese unerfüllte Liebe, wie sie sich in der indischen Liebesmystik der Bhakti oder auch im Sufismus wiederfindet, wird hier besungen. In vielen Sufigedichten wird dafür das Bild des Falters verwendet, der nicht anders kann als in die Flamme zu fliegen und zu verbrennen. Dieses "Entwerden", dieser egolose Zustand wird in Raga Yaman musikalisch hervorgerufen. Der Musiker will sich damit verschenken, sich in Demut und Bescheidenheit ganz der Liebe zum Numinosen hingeben und aufopfern.

Raga Yaman macht mich immer wieder sensibel und feinfühlig. Gerade die erhöhte Quarte macht mir ungelösten Ärger, Enttäuschung und Verletzungen bewusst. Die große Septime und auch die große Terz stehen stark im Vordergrund und entfachen das Feuer der Sehnsucht. Yaman ist wie ein unlösbares Koan, eine offene Frage, eine endlose Suche nach dem Sinn des Lebens.


* Seit über 20 Jahren beschäftigt sich Thomas Meisenheimer mit indischen Ragas, ihrer Wirkung und ihrem Einsatz als klangtherapeutisches Mittel. In der Reihe "Klangarbeit mit Ragas" stellt er seine Erfahrungen vor - nicht als allgemeine "Raga-Hausapotheke", sondern als Anregung zu eigenem Ausprobieren, Erleben und Erforschen.