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Konzertleben in Kalkutta

Reisebericht von Yogendra
(März 2012)

Im Februar 2012 hatte Yogendra Gelegenheit, das klassische Konzertleben in der bengalischen Musikmetropole Kalkutta zu erleben.

1. Mehfil - das Hauskonzert
2. Bhawanipur Sangeet Sammilani
3. Sangeet Research Academy
4. KMDA Garfa Music Festival
5. Fusion im Roxy

1. Mehfil - das Hauskonzert

Jahrhundertelang wurde die Raga-Musik vor allem an den indischen Fürstenhöfen im erlauchten Kreis geladener Gäste gespielt. In diesem intimen Rahmen kann sie vielleicht am unmittelbarsten ihre subtile Faszination entfalten. Später übernahmen auch zu Geld gekommene bürgerliche Landbesitzer, Kaufleute oder Akademiker die Rolle der Gastgeber für diese Mehfil genannten Musikveranstaltungen im privaten Rahmen. Den Zauber des Mehfils hat der große Regisseur Satyajit Ray wunderbar in seinem 1958 veröffentlichten Film "Das Musikzimmer" (Jalsaghar) eingefangen. Seit der indischen Unabhängigkeit ist die Tradition des Mehfils allerdings mehr und mehr von öffentlichen Konzerten verdrängt worden. Aber noch heute ist sie in gewandelter Form lebendig.

Statt eines Palastes oder zumindest einer Villa war der Ort dieses modernen Mehfils ein schlichtes 3-Zimmer-Appartment in der Nähe von Tollygunj, einem belebten Viertel im südlichen Stadtgebiet. Engagierter Veranstalter und Gastgeber war statt eines Moguls der Dhrupad-Student und Filmemacher Carsten Wicke (sein Film Music Masala ist bei India Instruments erhältlich). Und statt eines Beutels mit Goldmünzen gab es für die auftretenden Künstler lediglich eine warme Mahlzeit. Offenbar ging es also nicht darum, Musik als repräsentatives Statussymbol zu benutzen, sondern den Geist des alten Mehfil zu pflegen - die Leidenschaft für eine erlesene, hoch verfeinerte Kunstform.

Wer sich an diesem Abend in dem kleinen Appartment einfand, wusste, worauf er sich einließ und hatte sich bewusst dafür entschieden, denn zur gleichen Zeit fanden noch mehrere andere hochkarätige Konzerte in Kalkutta statt. Die etwa 30 Gäste waren etwa zu je einem Drittel indische Musikliebhaber, europäische und nordamerikanische Musikstudenten und die auftretenden Künstler, die nicht nur ihre eigenen Beiträge ablieferten, sondern sich auch gegenseitig zuhörten. Und als besonderer Ehrengast tauchte gegen Mitternacht auch der große Tablameister Anindo Chatterjee auf, der in unmittelbarer Nachbarschaft lebt und bei dem Gastgeber Carsten Wicke am Anfang seiner musikalischen Laufbahn zunächst Tabla gelernt hatte. Die schon erwähnte warme Mahlzeit erhielten gegen Mitternacht auch alle Gäste als Lohn fürs Kommen.

Angesetzt war ein All-Night-Programm, das am Abend beginnt und bis in die Morgenstunden dauert. Dabei bringen mehrere Künstler nacheinander die zur jeweiligen Stunde passenden Ragas zu Gehör, so dass auch sonst selten dargebotene Ragas für das Ende der Nacht oder den frühen Morgen genossen werden können. Wie bei solchen Anlässen üblich, sind die Gäste nicht unbedingt von Anfang bis Ende dabei, sondern kommen und gehen wie es ihnen beliebt. Dadurch entsteht eine zwanglose Form, die den intimen Charakter der Veranstaltung positiv unterstreicht.

Das Programm bestritten junge, noch weitgehend unbekannte Künstler aus Kalkutta, Europa und den USA, die alle zu nennen diesen Rahmen sprengen würde. Geboten wurden weiblicher und männlicher Dhrupad-Gesang, Rudra-Vina, Sitar, Bansuri, Sarod und Kathak-Tanz - ein abwechslungsreiches, ambitioniertes und sehr ungewöhnliches Programm. Bunt gemischt war auch das künstlerische Niveau der Darbietungen - es reichte vom noch nicht recht ausgereiften Nachwuchstalent bis zum international konzertierenden Meister. Manch lokaler Künstler mag in der Hoffnung mitgewirkt haben, Kontakte für spätere bezahlte Auftritte knüpfen zu können, während für die westlichen Musiker der Reiz wohl vor allem darin bestand, sich vor einem indischen Kenner-Publikum zu beweisen. Aber der Kern für alle dürfte die Begeisterung für die Musik gewesen sein, und die Freude daran, sie mit Gleichgesinnten zu teilen.

Dazu gab es reichlich Gelegenheit, denn alle Künstler gaben spürbar ihr Bestes und die physische Nähe auf dem mit Decken und Kissen ausgelegten Boden des Musikzimmers ließen Konzentration, Hingabe und Enthusiasmus der Darbietungen unmittelbar auf alle Anwesenden überspringen. Angeregt ausgetauscht und diskutiert wurde dann bei Chai und Snacks in den Pausen in der Wohnküche und auf dem Balkon - und das noch bis weit nach Sonnenaufgang und dem Ende des Programms. Übereinstimmender Tenor: Ein einzigartiges, kostbares Erlebnis, das es in dieser Form heutzutage leider viel zu selten gibt.


2. Bhawanipur Sangeet Sammilani

Die südliche Innenstadt von Kalkutta, zwischen dem alten Zentrum und der Einkaufsmeile Rash Behari Avenue (wo heute noch der Sarodbauer Hemen residiert und bis vor wenigen Jahren auch der Sitarbauer Hiren Roy), ist ein dicht bebautes, pulsierendes bis tosendes indisches Großstadtviertel. In einer Seitenstraße findet sich ein unscheinbares älteres Gebäude im ortsüblichen Zustand - schmutziger Gehweg davor, schimmelfleckige Wände, schmale Eingangstür und enges Treppenhaus voll unsäglicher Gerüche. Wer sich aber von dem wenig einladenden Äußeren nicht abschrecken lässt, findet im ersten Stock einen der ältesten und ehrwürdigsten privaten Musikzirkel Kalkuttas - den Bhawanipur Sangeet Sammilani, zu deutsch etwa: die Musikversammlung des Bezirks Bhawanipur.

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entdeckte das neu entstehende gebildete Bürgertum in den indischen Großstädten die Raga-Musik als nationales Kulturgut. Vielerorts wurden private Musikvereine zu dessen Pflege gegründet. Das klassische Musikmonopol der Adeligen oder Großgrundbesitzer mit ihren traditionellen Mehfils bröckelte und wurde zunehmend ersetzt durch bürgerschaftliches Engagement. Die Gründung des Bhawanipur Sangeet Sammilani im Jahr 1900 fiel genau in diese Bewegung. Im Lauf seiner mehr als 100-jährigen Geschichte hat der Verein manch glänzende Soiree erlebt: Bade Ghulam Ali Khan war dort ebenso zu hören wie Ali Akbar Khan, Ravi Shankar und Vilayat Khan. Aber auch heutige Größen wie Rashid Khan, Tejendra Narayan Mazumdar oder Veena Sahashrabudhhe sind regelmäßig zu Gast.


Die glorreiche Geschichte spiegelt sich im Konzertsaal des Sammilani an den wohl etwa vier Meter hohen Wänden wider - sie sind bis unter die Decke mit Gemälden berühmter Musikmeister vollgehängt und verleihen dem Raum ein einzigartig altehrwürdiges Flair. Ansonsten geht es aber eher schlicht zu: Die mit Teppichboden ausgelegte Grundfläche ist kaum größer als ein sehr sehr geräumiges Wohnzimmer. Stühle sucht man vergebens; lediglich an den Wänden ringsum stehen einige einfache Bänke. Man sitzt im Schneidersitz auf dem Boden. Als Bühne dienen ein paar niedrige Podeste, abgedeckt mit weißen Laken. Im Verhältnis dazu überraschend aufwändig ist aber die Tontechnik: Jedes Instrument bekommt ein eigenes Mikrofon, inklusive der Tanpura, Mischpult und Lautsprecher sind auf dem Stand der Technik und sogar große Monitorboxen für die Künstler stehen vor der kleinen Bühne. Nötig wäre dieser Aufwand in dem relativ kleinen Raum wohl nicht unbedingt - auch ohne Verstärkung wäre die Musik sicher gut zu hören. Aber der besondere Reiz des unverstärkten natürlichen Klangs scheint in Indien noch weitgehend unbekannt zu sein. Eine gewisse kräftige Grundlautstärke gehört einfach überall dazu.

Auf dem Programm stehen an diesem Abend der Sitarist Partha Chatterjee und eine in Kanada lebende singende Auslandsinderin als Vorprogramm. Über die Auslandsinderin möchte ich hier lieber schweigen - ihre Intonation war dermaßen schmerzhaft, dass ich mir nur mit aktivem Weghören und Verlassen des Saales nach ihrem ersten Stück zu helfen wusste. Es bleibt mir ein Rätsel, wie diese Dame zu der Konzerteinladung beim Sammilani gekommen ist. Sitarist Partha Chatterjee zeigte sich dagegen mit Raga Bihag als wahrer Ohrenschmaus. Die bestechende Klarheit seiner Raga-Interpretation, die gesangliche Musikalität seiner Phrasierung, seine perfekte Proportionierung der verschiedenen Formelemente und der organische Fluss seiner Kreativität sind reiner Hochgenuss. Sein Spiel in Alap, Jor und langsamem Gat dürfte zum Feinsten gehören, was die klassische indische Musik heute zu bieten hat. Lediglich seine schnellen Gats und Tanas wirkten oft unnötig angestrengt und überambitioniert. Gut, dass der brillante Tablabegleiter Ashok Mukherjee immer wieder mit souveräner Leichtigkeit und Spielfreude zur Stelle war.

So großartig die dargebotene Musik, so mager dagegen der Publikumszuspruch. Von den etwa 25 - 30 Besuchern waren wohl die eine Hälfte Verwandte und Schüler der Künstler und die andere Hälfte Sammilani-Aktivisten im Rentenalter. Nun ist Partha Chatterjee sicher keiner der heute populären Raga-Superstars, die allein schon durch ihren in allen Medien verbreiteten Kultstatus die Hallen füllen. Aber selbst ein ordentliches Nischenpublikum von Musikliebhabern ist in Kalkutta angesichts des großen kulturellen Angebots und der zunehmenden Kommerzialisierung und Verdichtung aller Lebensbereiche anscheinend schwer zu mobilisieren. Womöglich ist aber auch die Grundidee bürgerschaftlichen Engagements in Kulturvereinen heute nicht mehr zeitgemäß - die altehrwürdige Patina des Sammilani wirkt doch leicht angestaubt und alles andere als angesagt. Auch ein so traditionsreicher Verein braucht wohl immer wieder aktive junge Mitglieder und frische Ideen, um den Anschluss nicht zu verpassen und lebendig zu bleiben.


3. Sangeet Research Academy

Der Verkehrsknoten Tollygunge in Süd-Kalkutta ist das in indischen Metropolen übliche tosende Inferno. Doch inmitten dieser Kakophonie liegt wie eine Insel des Wohlklangs hinter hohen Mauern eine prächtige Kolonialvilla mit einem weitläufigen parkartigen Garten - die Sangeet Research Academy (SRA). Ihre elysischen Gefilde sind für die Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglich; nur ein knappes Dutzend berühmter Musikmeister, ihre Assistenten und handverlesenen Schüler sowie einige Tablabegleiter und das angestellte Personal passieren regelmäßig die Sicherheitskontrolle am Eingangstor. Kein hektisches Getriebe soll im Inneren vom eigentlichen Ziel ablenken: Im Sinne der alten Schüler-Lehrer-Tradition klassische Konzertsolisten heranzubilden. Durchaus mit Erfolg, denn die SRA-Absolventen Ajoy Chakrabarty und Rashid Khan zählen heute zu den Topstars der indischen Musik.

Immer mittwochs aber öffnen sich die Pforten dieses Musiktempels für jedermann zu Konzerten mit SRA-Stipendiaten und -Tutoren. Für Kenner eine gute Gelegenheit, den Nachwuchs in der Entwicklung zu erleben - und für diesen die Chance, sich vor einem kritischen, fachkundigen Publikum zu beweisen. Die Mitwochskonzerte finden in einem mittelgroßen Saal im Erdgeschoss statt, gleich hinter der Eingangshalle. Am Kopfende ist ein kleines Podium, das als Bühne dient, der Boden ist flächendeckend mit Teppichboden ausgelegt, und von den Wänden schauen großformatige Fotoportraits früherer SRA-Lehrer und berühmter Virtuosen des 20. Jahrhunderts. Durch die geschlossenen Fenster dringt nur gedämpft das Hupkonzert von Tollygunge, und mit Beginn der Performance wird es mühelos übertönt von der zwar kräftig aber noch maßvoll aufgedrehten Verstärkeranlage.

Im Vorprogramm ist an diesem Mittwoch Soumik Datta auf der Sarod zu hören, ein 1984 geborener Schüler von SRA-Guru Buddhadev Dasgupta, der aber nicht auf dem Campus lebt sondern in London. In seiner britischen Heimat ist Soumik ein recht erfolgreicher, experimentierfreudiger junger Musiker, der u.a. schon mit Beyoncé, Nitin Sawhney, Talvin Singh und dem Tänzer Akram Khan gearbeitet hat. Als Interpret indischer Klassik kann er in der Raga-Hochburg Kalkutta dagegen nicht überzeugen; mit kurzem Höflichkeitsapplaus wird Soumik nach einer all zu nervösen und zerfahrenen Performance von der Bühne geklatscht. Erheblich mehr Eindruck als sein Spiel dürfte sein Haar gemacht haben - einen Irokesenschnitt hat man bei einem Sarodspieler in Kalkutta wohl noch nicht gesehen...

Das zahlreich erschienene, etwa 60-köpfige Publikum ist eine gesunde Mischung aus Jung und Alt, Studenten, Lehrern und Mitarbeitern der SRA und externen Musikliebhabern, bunt durcheinander auf dem Boden hockend oder auf den wenigen Stühlen an den Wänden. Die meisten sind etwas feierlich in frisch gebügelten Kurtas oder Saris erschienen und Männlein und Weiblein werden durch einen frei gelassenen Mittelgang säuberlich voneinander getrennt. Hier weht noch ein förmlich-ehrwürdig-traditionalistischer Geist, der aus einer eigentlich schon vergangenen Zeit zu stammen scheint.

Gespannt ist man an diesem Abend auf Waseem Ahmed Khan, einen Sänger der Agra Gharana. Waseem, Jahrgang 1974, stammt aus einer alten Musikerfamilie, war früher selbst Stipendiat und ist jetzt seit ein paar Monaten frisch an der SRA eingestellt. Als Musician Tutor unterrichtet er Gesangsschüler, die noch nicht für ein SRA-Vollstudium in Frage kommen und steht zwischen Stipendiaten und Gurus. Seine Interpretation des schwierigen Abendragas Puriya beeindruckt zunächst mit ihrer klaren, majestätischen Linienführung. Anfangs vermag auch sein etwas raues, männlich herbes Timbre zu faszinieren. Aber je weiter die Performance fortschreitet, desto statischer, fast museal erstarrt wirkt sie, desto mehr fehlt der Ideenreichtum, die Eleganz und Geschmeidigkeit, die heute große indische Sänger auszeichnet. Mag sein, dass Waseem einfach kein wirklich großer Sänger ist, aber es ist sicher kein Zufall, dass der leicht archaisch wirkende reine Agra-Stil in den letzten Jahren nur noch selten zu hören ist. Viele Zuhörer sehen das wohl ähnlich, denn nachdem sie höflich bis zum Ende seines Puriya gewartet haben, ersparen sie sich weitere Stücke und Zugaben und gehen.

Auch ich habe für heute genug gehört. Zwar gab es künstlerisch keine Sternstunden, aber der Abend hat doch eine sehr lebendige Seite der indischen Klassik gezeigt. Traditionen werden gepflegt, ohne in die Musealisierungsfalle zu treten. Wer lediglich eine Überlieferung bewahrt, wird zwar respektiert, vermag aber nicht zu begeistern. Und eine neue weltoffene, kritische und experimentierfreudige Generation macht sich bereit, die indische Klassik ins 21. Jahrhundert zu tragen.


4. KMDA Garfa Music Festival

Der 2011 erfolgte Machtwechsel im indischen Bundesstaat West-Bengalen nach 34 Jahren kommunistischer Regierung macht sich auch im Kulturleben der Landeshauptstadt Kalkutta bemerkbar. Wohl auch der Profilierung des frisch ins Amt gerutschten Sportministers Madan Mitra dienten diverse von ihm initiierte Musikveranstaltungen mit freiem Eintritt in kulturell bisher eher unterversorgten Vierteln. Eines davon wurde von der Kolkata Municipal Development Authority (KMDA) im etwas verschlafenen Wohnviertel Garfa in einer Parkanlage ohne offizielle Adresse organisiert. Um dort hinzufinden, bin ich mit Sitarist Purbayan Chatterjee verabredet, einem der Solisten des Festivals. Nachdem unser Treffpunkt mehrfach im Minutentakt der aktuellen Verkehrslage entsprechend umdisponiert wurde, lande ich schließlich gestresst aber froh neben Purbayan auf dem Rücksitz seines Wagens. Vor mir sitzt als Beifahrer Simon Broughton, Chefredakteur des britischen Weltmusik-Magazins Songlines, ein Bekannter von Purbayan, gerade in Kolkata wegen eines internationalen Festivals mit Sufi-Musik und einer Recherche über traditionelle Musik im ländlichen Bengalen.

Das Garfa-Festival entpuppt sich als kommunale Großveranstaltung, für die ganze Straßenzüge geschmückt sind und lautstark beschallt werden. Als VIPs werden wir auf das abgesperrte Festivalgelände gelotst und fahren direkt beim Backstage-Bereich vor - eingerichtet im Wohnzimmer eines der Organisatoren im Haus gleich hinter dem riesigen Festzelt. Dort sitzt schon Tablabegleiter Anubrata Chatterjee, Sohn von Tabla-Altmeister Anindo Chatterjee. Ich brauche eine ganze Weile, um in der stylishen Erscheinung mit hochglanzpolierter Glatze, Ohrring, Spitzbart und hellblauer Glitzerkurta den dicklichen Teenager wiederzuerkennen, als den ich Anubrata von einem Besuch in Anindos Haus in den 1990ern erinnere.

Nach Smalltalk, Tee und Kaffee müssen die Musiker zum Soundcheck und man führt Simon und mich durch lange, mit roten Teppichen ausgelegte Gänge zu unseren Plätzen. Als offensichtlich ausländisches Künstlergefolge landen wir auf einem der bequemen Sofas in der exklusiven Promi-Zone direkt vor der meterhohen Bühne (und den ebenso hohen Boxentürmen). Der gemeine indische Musikfreund muss dagegen mit einem von etwa 4000 einfachen Plastikstühlen weiter hinten vorlieb nehmen. Während die sich langsam füllen, bleiben wir zwei Bleichgesichter in der Promi-Zone vorerst peinlich allein - bis uns einer der Veranstalter entdeckt und in Beschlag nimmt. Beim obligatorischen Visitenkartentausch erfahren wir einiges über das nachmittägliche Vorprogramm (Tagore-Lieder), seinen Hauptberuf (Eisenbahnbeamter) und seine eigenen musikalischen Talente (Badezimmersänger). Währenddessen findet auf der Bühne hinter geschlossenen Vorhängen der Soundcheck statt: offenbar der Versuch, Purbayans Sitar möglichst E-Gitarrenhaft verzerrt klingen zu lassen und die Laustärke auf ein Niveau zu bringen, dass die Musikwahrnehmung von den betäubten Ohren hinunter zu den Eingeweiden verlagert.

Nach schier endlosen Eröffnungsritualen mit immer neuen Ansprachen, entzündeten Öllampen, rezitierten Mantras und umgehängten Blumenkränzen öffnet sich schließlich der Vorhang und die Show beginnt. Die Soundleute haben ganze Arbeit geleistet: Schon nach wenigen Minuten stelle ich fest, dass ich die Musik nur mit fest zugedrückten Ohren schmerzfrei genießen kann. Künstlerisch ist Purbayans Spiel dagegen echte Feinkost. Er interpretiert den anspruchsvollen Raga Puriya in kompaktem Alap und Jor schnörkellos in all seiner herb strengen Schönheit. Und im Gat begeistert er im Zusammenspiel mit Anubrata mit rhythmischen Raffinessen und spektakulären Läufen. Hier spielt ein mit höchsten Gaben gesegneter Ausnahmekünstler, dessen Charisma, Musikalität und absolute technische Meisterschaft die indische Klassik in den kommenden Jahrzehnten weiter prägen dürften. Nach dem großen Raga in kompromiss klassischer Strenge schließt Purbayan mit einem gefälligen Kirwani, in den er Zitate eines populären bengalischen Liedes einfließen lässt. Ein freudiges Raunen geht durch das Zelt und Purbayan hat mit dieser kleinen Geste auch alle Herzen gewonnen, die keinen Zugang zu den Feinheiten der Raga-Tradition haben. Zugaben sind allerdings nicht mehr gefragt, denn anschließend steht noch der große Gesangsmeister Rashid Khan auf dem Programm.

Ich ziehe es vor, den Abend mit Purbayan, Anubrata und Simon ausklingen zu lassen. Die Stimmung ist locker entspannt und das köstliche Essen im edlen China-Restaurant trägt das seinige dazu bei. Die Musiker hatten zwar auch Probleme mit dem Sound, sind solche Situationen aber gewohnt und wissen damit umzugehen. Zudem ist ein Auftritt vor ein paar Tausend Menschen für sie Routine - zumindest wenn es sich nicht um eines der wirklich bedeutenden Musikfestivals handelt, bei denen Künstler, Kritiker und kenntnisreiches Publikum sich treffen und die Qualität einer Darbietung die Weichen für die weitere Karriere stellen kann. Für mich ist es ein Zeichen für die Vitalität der klassischen Musik, dass nicht nur Großfestivals wie z.B. Dover Lane vier- oder fünfstellige Publikumszahlen erreichen, sondern auch Kiezveranstaltungen wie das KMDA Garfa. Offenbar ist die Raga-Tradition nicht nur in den etwas esoterischen Zirkeln einiger weniger Eingeweihter lebendig, sondern erreicht auch breitere Kreise der stetig wachsenden gebildeten Mittelschicht. Und sie taugt sogar dazu, den kulturellen Anspruch einer neuen politischen Ära zu demonstrieren.


5. Fusion im Roxy

Nach einem privaten All-Night-Hauskonzert und Konzerten beim Liebhaberzirkel Bhawanipur Sangeet Sammilani, der renommierten Sangeet Research Academy und dem riesigen KMDA Garfa Festival habe ich einiges von der klassisch-indischen Musikszene in Kalkutta gesehen. Zeit für eine ganz andere Erfahrung. Die beschert mir eine Einladung von Star-Sitarist Purbayan Chatterjee. In der angesagten Roxy Bar will er mit einer Live-Performance sein neues Album Hemisphere vorstellen, eine Fusion-Platte, wie mir gesagt.

Das Roxy liegt in der Park Street mitten im Stadtzentrum, im Erdgeschoss des noblen Park Hotels. Ein stylisher Laden, der mit 56 verschiedenen Weinsorten aus aller Welt und dem Slogan "Unwiderstehlich sexy - einladend Roxy!" wirbt und so ähnlich wohl auch in jeder anderen Metropole irgendwo auf diesem Planeten stehen könnte. Ich komme pünktlich, aber auf den zwei Etagen des Roxy, auf denen gut über 100 Gäste Platz hätten, verlieren sich ein bis zwei Dutzend Leute. Das Programm starte später, heißt es, man warte noch auf einige VIPs. Erst jetzt wird mir klar, dass ich nicht auf einem Konzert bin, sondern auf einem für die Medien inszenierten CD-Release-Event, zu dem nur geladene Gäste Zutritt haben. Die Wartezeit kann man sich mit kostenlosen Drinks und Snacks vertreiben, mit Smalltalk mit Stars und Sternchen der aufgelaufenen bengalischen Celebrity-Szene, mit den anwesenden Musikern und deren Schülern aus Japan oder indem man sich spaßeshalber von der ebenfalls erschienenen Glamourpresse interviewen lässt. Nach ein- oder zweistündiger Zeittotschlägerei versammelt sich die illustre kleine Gesellschaft schließlich stehend mit Drinks in der Hand vor der Bühne. Tablavirtuose Tanmoy Bose, Strippenzieher in der kalkutteraner Musikszene, durchschneidet feierlich ein rotes Band und hält eine Hemisphere-CD in die Kameras, und nachdem er und ein paar andere die Platte gelobt und betont haben, wie großartig es sei, heute hier zu sein, startet endlich die Musik.

Die Band für diesen Abend besteht aus Anubrata Chatterjee, Anindo Chatterjees Sohn, an Tabla und Percussion, einem namentlich nicht vorgestellten Keyboarder, einem ebenfalls anonymen Bassisten, "Marc aus Amerika" am Drumset und natürlich Purbayan mit seiner selbst entwickelten E-Sitar und Vocal. Stilgerecht präsentieren sich die Musiker hier nicht in traditionellen Kurtas sondern cool leger in Jeans und Hemden. Die Lautstärke ist zwar hoch, aber noch unterhalb der Schmerzschwelle - in Kalkutta leider keine Sebstverständlichkeit. Poppig und mit viel Elektronik kommt die Musik daher, aber doch nach alter Väter Sitte live handgemacht. Trotz durchaus spürbarer Spielfreude der Musiker mit ausgiebigen Soli, betörenden Sitar-Licks und spontaner Einbindung von Stargast Tanmoy Bose kommt aber nie wirklich Stimmung auf. Zu willkürlich und beliebig ist der Stilmix von Hemisphere, der von afrikanischen, keltischen, indischen und jazzigen Elementen bis zu einem Cover von Stings "Fragile" reicht. Künstlerisch ist das Ergebnis einfach zu mager. Bezeichnend, dass die CD nur sieben Stücke mit einer Gesamtspielzeit von unter 30 Minuten hat. Und zu deutlich ist auch, dass es im Roxy nicht um das Musikerlebnis geht, sondern um eine mediale Inszenierung.

Schade drum. Mit seinem klassischen Ensemble Shastriya Syndicate und seinem Fusion-Album Stringstruck hatte Purbayan in den letzten Jahren künstlerisch ambitionierte Projekte realisiert und damit auch kommerziell große Erfolge gefeiert. Und seine Offenheit und kreative Neugier lassen ihn laufend nach neuen musikalischen Möglichkeiten suchen. Aber mit Erfolg und Bekanntheit steigt wohl auch der Produktionsdruck von Musikindustrie und Öffentlichkeit. Purbayans Vertrag mit dem indischen Medienkonzern Times Music über ein halbes Dutzend weiterer Konzeptalben (darunter einem mit westlichen Klassik-Hits auf Sitar) lässt nicht unbedingt Gutes erwarten.

Den Spagat zwischen einer Identität als traditioneller Interpret klassischer Ragas einerseits und kommerziellen Produktionen mit Bollywood, Pop, Rock und Fusion andererseits versuchen heute immer mehr renommierte jüngere klassische Musiker. Die Verlockung, über die Raga-Nische hinaus eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen und dabei auch richtig Geld zu verdienen, ist offenbar groß. Ganz neu sind solche Grenzüberschreitungen natürlich nicht. Ravi Shankar verdankt seinen Weltruhm wesentlich seinen Experimenten mit Film- und Orchestermusik und mit nicht-indischen Musikern. Und Künstler wie Hariprasad Chaurasia und Shivkumar Sharma haben von ihrer Arbeit für die indische Filmindustrie in jeder Hinsicht profitiert. Aber mitunter scheint es, als ob die Kombination aus Beschleunigung und Kommerzialisierung einerseits und der unendlichen Fülle technischer Möglichkeiten in der digitalen Musikproduktion andererseits es den jungen indischen Musikern eher erschwert, wirklich kreativ zu werden und sich weiterzuentwickeln. Wenn Musik nur noch Showbusiness ist, bleiben die Kunst und die eigene Seele leicht auf der Strecke. Oder ist die Liaison mit der Unterhaltungsindustrie und der Flirt mit zahlungskräftigen Sponsoren aus der Wirtschaft heute schlicht eine Notwendigkeit, um auch der Raga-Tradition Öffentlichkeit und Gelder zukommen zu lassen, ohne die sie nicht überleben könnte? Die Zukunft wird es zeigen.