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Kulturaustausch im Wandel - Sasha Waltz & Kiran Nagarkar

Hintergrundbericht von Yogendra
(Juli 2013)

Die 1990er Jahre: Nordamerika und Westeuropa hatten mit Demokratie, Kapitalismus und atomarem Rüstungswettlauf den Kalten Krieg gegen den kommunistischen Ostblock gewonnen. Ihr Wirtschafts- und Gesellschaftssystem schien alternativlos überlegen und manche hielten es nur für eine Frage der Zeit, bis sich das überall herumgesprochen hätte und Weltfrieden herrschen würde. Deutsch-indischer Kulturaustausch hieß damals, dass ein Land dem anderen zeigte, was für großartige kulturelle Errungenschaften es vorzuweisen hatte. Indien versuchte 1991/92 bei den indischen Festspielen in Deutschland, mit hochkarätigen Ensembles der klassischen Musik- und Tanztraditionen zu punkten. Und Deutschland schickte etablierte moderne Künstler wie z.B. Pina Bausch nach Indien, große Pionierin des modernen Tanztheaters.

Ob damit nachhaltige Wirkung im Gastspielland erzielt oder gar gegenseitiges Verständnis gewonnen wurde, darf zumindest bezweifelt werden. Der einzelne Zuschauer, der bei einem der klassisch-indischen Konzerte im Audimax der TU Darmstadt mitten im Stück aufsprang und nach guter indischer Sitte lautstark gestikulierend seine Begeisterung zum Ausdruck brachte während der Rest des Publikums nach guter westlicher Sitte reglos schweigend dasaß, illustrierte jedenfalls höchst anschaulich das Unverständnis für den Geist der Musik, mit dem das Publikum lauschte. Die Zuschauer bei der Performance von Pina Bauschs Ensemble in Kalkutta wiederum dürften vor allem deshalb in völligem Schweigen durch die Aufführung gesessen haben, weil sie nicht die leiseste Ahnung hatten, was das Gebotene zu bedeuten haben mochte.

Heute ist die Welt multipolar und entsprechend unübersichtlich. Wirtschaftlich ist jeder mit jedem verflochten. Das internationale Finanzsystem steht immer mal wieder vor dem Kollaps und der Klimawandel bedroht unsere Lebensgrundlagen. Gleichzeitig rangeln immer mehr Welt- und Regionalmächte um Macht- und Einflusssphären. Die Förderung des kulturellen Austauschs im klassischen Sinn spielt dabei für die staatlichen Akteure in Deutschland und Indien offenbar kaum noch eine Rolle. Im Mittelpunkt der von deutscher Seite in Indien organisierten Reihe “Germany and India 2011-2012: Infinite Opportunities” stand die von Stadt zu Stadt wandernde "Indo-German Urban Mela", die in mobilen Pavillons Präsentationen deutscher Wirtschaftskonzerne zeigte und im kulturellen Rahmenprogramm u.a. mit einem Biergarten aufwartete. Und bei den groß angekündigten "Days of India in Germany" 2012 - 2013 beschränkte sich die indische Seite weitgehend darauf, zu ohnehin stattfindenden kulturellen Veranstaltungen Repräsentanten zu entsenden. Kultureller Austausch zwischen Indien und Deutschland läuft heute wohl kaum noch in staatlich kontrollierten, voneinander abgetrennten Einbahnstraßen. Stattdessen sind Akteure aus anderen Bereichen als Produzenten aktiv, und Künstler aus beiden Kulturkreisen arbeiten spartenübergreifend in Projekten zusammen. Zwei aktuelle Beispiele mögen das illustrieren.

Im Januar 2013 war die in Berlin ansässige Choreografin Sasha Waltz mit 15 Tänzern ihrer Compagnie und vier Solisten des Mahler Chamber Orchestra zu Gast in Kalkutta. Dort zeigte sie aber nicht einfach eine fertige Produktion, sondern entwickelte zusammen mit einem indischen Tanzensemble unter Leitung von Padmini Chettur vor Ort eine speziell auf den Aufführungsort zugeschnittene Inszenierung. Sie fand in einem 250 Jahre alten und seit längerem dem Verfall preisgegebenen ehemaligen Stadtpalast statt. Die Besucher wanderten durch dessen Räume und erlebten in jedem Raum andere ortsspezifische Musik- und Tanz-Performances, teils festgelegt, teils improvisiert, mit einem musikalischen Spektrum, das von Bach über Ravel und Stravinsky bis Berio und Penderecki reichte. Bleibende Werke schafft ein solches Projekt natürlich nicht, aber die unwiederholbare Einzigartigkeit des Zusammentreffens von Raum, Tänzern, Musikern und Publikum darin schafft eine Qualität, die sich bewusst quer stellt zur beliebigen Reproduzierbarkeit wirtschaftlich durchkalkulierter Massenkultur. Hier eine Kurzdoku zum Projekt.


Im Mai wurde im Theater Freiburg eine Bühnenversion des Romans "Gottes kleiner Krieger" des indischen Romanciers Kiran Nagarkar uraufgeführt. Das umstrittene 700-Seiten-Werk reflektiert religiös motivierten Extremismus in der globalisierten Moderne anhand zweier ungleicher indischer Brüder und wurde als bunt schillerndes Musical mit Bollywood-Touch auf die Bühne gebracht. Glanzstücke der Inszenierung des deutsch-schweizerischen Regieduos Jarg Pataki und Viola Hasselberg sind die Tanz- und Musikszenen mit dem bunt zusammengewürfelten multikulturellen Live-Musikensemble und dem Bewegungschor des Theaters. Federführend beim Tanz ist der in Großbritannien lebende indischstämmige Choreograf Aakash Odedra, der zeitgenössischen Tanz mit klassisch indischem Kathak verbindet. Und die Musik ist geprägt von den Ideen des in Berlin lebenden, ebenfalls indischstämmigen Komponisten, Percussionisten und Sängers Ravi Srinivasan, der dabei Zitate aus indischer Klassik und spiritueller Musik ebenso nutzt wie Bollywood-Elemente. Die Inszenierung läuft weiter am Theater Freiburg, wird 2014 auch in Oberhausen und in Hamburg gezeigt und soll später auch in Mumbai zu sehen sein. Hier die nächsten Termine und kurze Videoeindrücke.

Wahrscheinlich hat das Publikum in Kalkutta von Sasha Waltz' Performances nicht mehr verstanden als damals von Pina Bauschs Tanztheater. Und das deutsche Theaterpublikum erfreut sich in der Freiburger Inszenierung von "Gottes kleiner Krieger" wohl in alter abendländischer Tradition vor allem an orientalisch anmutender Exotik. Aber zumindest die an diesen beiden Projekten beteiligten Künstler dürften sich in der Arbeit auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit einer anfangs fremd erscheinenden anderen Kultur eingelassen haben und daraus einen erweiterten Horizont mitgenommen haben. Das allein wäre schon ein erfreuliches Ergebnis und ein beachtlicher Fortschritt.