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Mail aus Delhi

von Martin Lamß
(September 2011)

1. Flirt mit der Bürokratie

Seit zwei Tagen bin ich in Delhi. Eine der ersten Besorgungen, die ich hier erledigen muss: Einer Freundin ein indisches Geburtstagspaket zusammenstellen und abschicken. Aber ich habe Angst, in der Nervenmühle Postamt zermahlen zu werden. Denn: Die Wartenden stehen dort, wie vielerorts in Indien, nicht einfach so in der Schlange, sondern drängeln sich wie Hunde um einen Fressnapf an den Schalter. Wer die spitzesten Ellbogen hat, gewinnt und ist als erster dran. Dann ist man endlich an der Reihe und stellt fest, dass man den falschen Counter erwischt hat. An einem anderen geht das Spiel von vorne los. Als nächstes muss man vermutlich tausend Formulare ausfüllen, auf denen in jedem Fall auch der Name des Vaters stehen muss. Und je nach Postamt wohl auch der des Sohnes und des heiligen Geistes.

Im Handyladen musste ich das heute so ähnlich schon erfahren. Beim SIM-Kartenkauf zwecks Erwerb einer indischen Mobilnummer. Aber das mit dem Vatersnamen war nicht das Problem. Die wollten für den Antrag doch tatsächlich ein Passbild von mir. Bei Vodafone! Das wusste ich eigentlich schon, hatte es aber vergessen und deswegen keins mit. Aber um die Ecke sollte es einen Fotografen geben, der mir ratzfatz in zwei Minuten eins anfertigt. Ich also losgelatscht durch die heute echt läppischen 38 Grad und Mief und Lärm. Jemanden hier gefragt, jemanden da gefragt. Ein Internet-Café-Besitzer konnte mir gleich zwei Fotografen nennen. Der eine Fotoladen war in Wirklichkeit ein Gemüsehändler, der andere machte noch drei Stunden Mittagspause. Ich hab es dann jedenfalls aufgegeben und bin zu einem anderen Mobilfunk-Anbieter gegangen.

Dort wollte die sehr schöne und sehr freundliche Verkäuferin zwar auch erst ein Passfoto, gab sich aber letztlich mit einer Kopie meines Passes zufrieden. Hier wurde es erst problematisch, als ich meine Adresse in Delhi angeben sollte: Die Handy-Fee verlangte, ich solle meine Freunde anrufen, bei denen ich wohne. Sie sollten ihr bestätigen, dass ich mich auch tatsächlich dort aufhielte. Aber wie sollte ich denn telefonieren ohne funktionierendes Handy? Außerdem sind meine Freunde gerade in Laos, wo ich sie telefonisch nicht erreichen kann, sagte ich ihr. Dann möge ich doch eine Visitenkarte mit der Adresse vorweisen. Die hatte ich aber auch nicht. Nach zehn Minuten des Lamentierens stellte sich heraus, dass ich die Adresse schlicht falsch ausgesprochen und die Verkäuferin sie deswegen nicht verstanden hatte. Oder sie hatte die Diskussion einfach auch satt. Ich nannte ihr die Anschrift noch einmal, und alles ward gut.

Noch ein paar Missverständnisse später hat sie mich, na ja, angeflirtet? Es wäre naiv, das zu glauben, denn es wäre nach indischen Gepflogenheiten unschicklich gewesen. Jedenfalls hat sie etwas verlegen aber sichtlich amüsiert gefragt, wie man denn meine Heimatadresse, die "Gutsmuthsstraße", ausspreche und ob es in  Deutschland auch so heiß sei und wie lange man denn da hin fliege. Zum Abschied hat sie mich mit ihrem Handy fotografiert. Angeblich für die Unterlagen. Na klar, wo ihr doch die Kopie meines Passes gereicht hat! Sie will in ihrem Freundeskreis sicherlich nur damit angeben, dass sie scheinbar einen Westler kennt! Das machen hier viele: Westler filmen und fotografieren. Fragt man, warum sie das tun, bekommt man die schlichte Antwort: "Because you are a stranger." Ich muss jedenfalls noch mal hin zur schönen, freundlichen Frau vom Handyladen, weil man in Indien ? zumindest bei meinem Anbieter - nicht einfach ein Prepaid-Guthaben kaufen kann, mit dem man alles machen kann. Nein, man muss eins für Anrufe im Inland kaufen, zusätzlich ein Guthaben für Anrufe ins Ausland und dazu noch SMS! Letzteres habe ich jedenfalls versäumt. Meine Güte, kein Wunder, dass die Korruption hier blüht! So eine Bürokratie zwingt einen ja förmlich, etwas nachzuhelfen. Vielleicht mit einer Einladung zum Essen?


2. Qawwali Kulturschock

Oh Mann, jetzt hat mir aber wirklich Hardcore-Indien zugesetzt! Ich komme gerade zurück vom Hazrat Nizamuddin Dargah. Das ist der Grabesschrein von einem berühmten muslimischen Heiligen. Nach ihm ist auch ein Stadtteil von Delhi benannt. Manche sagen, dort wurde der Qawwali erfunden, die geistliche Musik der islamischen Mystiker Südasiens. Man kann sie jeden Abend am Schrein hören.

Aber der kurze Weg von der Straße bis dorthin ist ziemlich lang. Man muss sich von der breiten Magistrale aus durch eine schlammige Gasse kämpfen. Bettler mit und ohne Krücken, mit und ohne Lepra laufen, humpeln, kriechen einem entgegen. Die Gasse wird immer enger. Nicht nur von rechts und links, auch von oben. Denn ab ungefähr hundert Meter vorm Schrein ist die Gasse überdacht, und die Überdachung senkt sich einem scheinbar immer weiter entgegen. Dafür schillert es dort ganz bunt. Die Händler verkaufen alles, was der Pilger dringend braucht: Andachtsbildchen mit und ohne Blinklichter, DVDs, tote und halbtote Hühner. Dazu auch Essen, das nicht erst geschlachtet werden muss. Zum Beispiel frisch frittierte Teigtaschen in allen Variationen, nach denen die Gasse auch kräftig duftet. Den Händlern war klar, dass ich von all dem nichts wollte, dass ich aber eins musste: nämlich meine Schuhe ausziehen, um das Heiligtum betreten zu dürfen. Und das haben sie mir dann auch alle lautstark nahegelegt: Ich sollte doch bitteschön gegen eine kleine Gebühr meine Latschen bei ihnen abstellen. Zwar habe ich es zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst, aber geahnt: Zwischen mir und dem Schrein lagen noch 100 Meter Essensreste, Abwasserpfützen und frische Spucke mit Kautabak. Am liebsten wäre ich drüber geflogen. Da ziehe ich doch nicht noch meine Schuhe aus! Aber irgendwann musste ich es tun.

Und das war dann bei Selim, einem Teeverkäufer. Zu dessen Häuschen kommt man, wenn man kurz vorm Haupteingang zum Schrein falsch abbiegt. Und zwar nach rechts. Kann nur allen raten, so falsch abzubiegen. Denn an Selims Teebude herrschen relative Ruhe und Sauberkeit. Außerdem liegt sie an einem nur spärlich besuchten Seiteneingang. Und wenn man den passiert hat, steht man direkt am Sufi-Grab im Taj-Mahal-Stil. Davor sitzen die Mystiker-Musiker im Viereck auf dem weißen Marmorboden. Ein Vorsänger und zwei Intrumentalisten mit Harmonium und Dholak, einer Quertrommel. Mit teilweise erotischen Versen erklärt der Vorsänger seine Liebe. Nein, nicht zu einer Frau, sondern zu Allah! Die zwanzig Männer, die um ihn herumhocken, tun das auch, indem sie dem Vorsänger mit denselben Worten antworten. Dazu klatschen ihre Hände im Takt. Das alles klingt sehr tanzbar.

Aber tanzen wäre wohl unangebracht gewesen. Außerdem war's dafür definitiv zu heiß, zu schwül. Allah sei Dank gibt es dagegen am Nizamuddin-Schrein aber noch einen original Pankhawalla. Das ist ein weißbärtiger Mann im grünen Dress, dessen Job es ist, mit einem Fächer herumzuwedeln. Das Ding ähnelt allerdings mehr einer Fahne an einer Stange. Und man muss aufpassen, dass man damit nicht eine verbraten bekommt, so flach rauscht das Ding über den Köpfen der Besucher hin und her.

Ich glaube, ich war so ziemlich der einzige Westler am Ort und wurde deswegen freundlich-wohlwollend angestarrt. Aber gut, ich habe ja auch gestarrt. Besonders interessant fand ich die Leute, die aussahen, als wären sie mit ihrem weißen Gewand, Käppi und langem Bart direkt aus dem mittelalterlichen Mekka gekommen. Dann packten sie aber ein Smartphone aus. Nach zwanzig Minuten habe ich leider die Hitze und die vielen Fliegen nicht mehr ausgehalten, gegen die auch der Pankhawalla nicht viel ausrichten konnte.

Also raus, zurück zu Selims Chaibude. Er bat mich, mich noch zu ihm zu setzen. Dann stellte er mir seine alte, kleine Mama vor und seinen vierjährigen Sohn. Der betete extra für mich mit verrotzter Kinderstimme Gedichte auf Englisch und Hindi herunter. Das war wirklich superniedlich. Besonders weil er mit seinen großen, braunen Kulleraugen total dem Kindchenschema entsprach. Allerdings glaube ich, sie hatten den Kleinen ein bisschen für Touristen dressiert. Dann gab es natürlich die üblichen Fragen des Inders an den Ausländer: Name, woher kommst Du, was machst Du hier und so weiter. "Ah Journalist! Dann schreib mal bei Dir zu Hause in die Zeitung, dass die hier den engen Zugang zum Schrein ausbauen sollen. Ist schließlich der berühmteste der Welt. Und dann der ganze Dreck! Das geht ja wohl nicht!" Jetzt habe ich es geschrieben. Und danke Selim, dass Du Dein Viertel mit ähnlichen Augen siehst wie ich. Ich hatte nämlich schon ein bisschen Angst, dass ich Nizamuddin mit dem Dünkel des kulturgeschockten Westlers betrachte.

* Martin Lamß studiert Journalistik in Leipzig. Im Sommer 2011 recherchierte er für seine Diplomarbeit über deutsche Auslandskorrespondenten in Neu Delhi und schickte uns gelegentliche Reiseimpressionen.