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Rabindranath Tagore - Brückenbauer und Universalgenie

Essay von Yogendra
(Juni 2011)

Mit wallendem Haar, langem Bart und traditionellem indischem Gewand steht 1921 eine exotisch wirkende Gestalt in Deutschland vor begeisterten Menschenmengen. Inszeniert als mystischer Heiliger aus dem weisen Osten hält Rabindranath Tagore im Rahmen einer Europatournee Vorträge über interkulturelle Verständigung, Versöhnung und Weltfrieden und löst damit eine euphorische Begeisterungswelle bei der vom Ersten Weltkrieg traumatisierten deutschen Jugend aus. Schlagartig weltberühmt geworden war Tagore 1913, als ihm zur allgemeinen Überraschung der Literaturnobelpreis für die englische Übersetzung seiner Gedichtsammlung Gitanjali verliehen wurde. Die Tagore-Begeisterung in Deutschland war allerdings recht kurzlebig - zwei weitere Besuche 1926 und 1930 fanden kaum noch Resonanz, und nach dem Zweiten Weltkrieg war er nahezu vergessen. Erst Jahrzehnte später wurde er mit Direktübersetzungen aus dem bengalischen Original vor allem als Schriftsteller langsam wiederentdeckt. In seiner indischen und vor allem seiner bengalischen Heimat gilt Tagore dagegen mit seinem vielgestaltigen künstlerischen Werk und seinem gesellschaftlichen Engagement als größtes Universalgenie des 20. Jahrhunderts.


Geboren wurde Rabindranath Tagore vor 150 Jahren, am 7.5.1861, in einer bekannten Intellektuellenfamilie in Kalkutta. Sein Großvater Dwarkanath unterstützte soziale, kulturelle und Bildungseinrichtungen und sein Vater Debendranath formulierte die Glaubenssätze der neo-hinduistischen Reformbewegung Brahmo Samaj. Auch seine älteren Geschwister waren Schriftsteller, Gelehrte und Philosophen. Als Jugendlicher entdeckte er auf Reisen durch Indien seine Verbindung zur Natur. Und als junger Mann lernte er dann beim Studium in England westliche Kunst, Kultur und Lebensart kennen und schätzen. Aus der Verwurzelung in indischen Traditionen, der Naturverbundenheit und der Offenheit für westliche Ideen entstand ein einzigartiges Lebenswerk, das mit seinen Innovationen die moderne bengalische Literatur entscheidend prägte, dem Bildungswesen neue ganzheitliche Impulse gab, die Entwicklung des ländlichen Raumes vorantrieb, ein umfangreiches malerisches Werk schuf und mit hunderten von Liedern das neue musikalische Genre Rabindra Sangit kreierte. Politisch engagierte sich Tagore zudem im indischen Unabhängigkeitskampf gegen die britische Kolonialherrschaft, schrieb die indische Nationalhymne und fand den Beinamen Mahatma, große Seele, für M.K.Gandhi, der als Freiheitskämpfer unter dem Namen Mahatma Gandhi zum Vater der indischen Nation wurde.


Auch wenn Tagores Wirken in Deutschland auf den ersten Blick wenig nachhaltig erscheint, muss er als ein bedeutender Vorreiter eines interkulturellen Austausches gewürdigt werden, der uns heute vielleicht selbstverständlich erscheint. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten dagegen nationalistische und imperialistische Ideologien das europäische Selbstverständnis - kein besonders fruchtbarer Boden für eine Würdigung außereuropäischer Kulturen. Dass es Tagore und anderen Vorreitern wie z.B. Hazrat Inayat Khan (s.u.) trotz dieses eher feindlichen Klimas gelungen ist, bleibende Spuren im Westen zu hinterlassen, muss ihnen hoch angerechnet werden. Sie trugen dazu bei, den europäischen Blick von der Nabelschau weg in die Welt zu lenken und bereiteten so den Boden vor, auf dem Freunde indischer Klänge sich heute hierzulande bewegen. Dass Tagore dabei zwischenzeitlich zur Heilsfigur hochstilisiert wurde, sagt vor allem etwas über die Erlösungssehnsüchte des hiesigen Publikums und die Schwierigkeit, die Kluft zwischen Fremdem und Eigenem zu überbrücken. Erst mit einem realitätsgedeckten Verständnis füreinander und einem konstruktiven Miteinander wird echte Begegnung möglich. An diesen Lernaufgaben arbeiten wir bis heute.