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Raga-Geist im digitalen Zeitalter

Essay von Yogendra
(Januar 2011)

2010 war ein sehr stilles Jahr für die Szene für klassische indische Musik in Mitteleuropa. Weder gab es große Höhepunkte zu feiern, noch besondere Rückschläge oder Verluste zu betrauern. Die Szene scheint sich in einer Art Dornröschenschlaf zu befinden - nicht vollends tot, aber auch nicht richtig lebendig. Der Verkauf indischer Musikinstrumente entwickelt sich dagegen stabil weiter - von Stagnation oder gar einem Einbruch ist nichts zu spüren. Wie passt das zusammen?

Die Masse der verkauften Instrumente bei India Instruments sind nicht die schwierig zu spielenden Hauptinstrumente der Raga-Tradition wie Sitar oder Sarod. Ein technisch so anspruchsvolles Instrument zu meistern ist ein langwieriger, mühsamer Prozess, der viele Jahre des Lernens und Übens erfordert. Unterwegs gibt es zwangsläufig nicht nur Fortschritte und Erfolge, sondern auch Enttäuschungen, die es durchzustehen und zu bewältigen gilt und die wesentlich zum musikalischen und persönlichen Reifungsprozess beitragen. An solchen herausfordernden, langfristigen und grundsätzlich ergebnisoffenen musikalischen Lernprozessen haben heute anscheinend nur (noch) sehr wenige Menschen Interesse. Attraktiver und in größeren Stückzahlen verkäuflich sind einfach zu spielende Instrumente wie Harmonium, Shrutibox und Tanpura. Sie werden als Begleitinstrumente für Gesang, Entspannung und Meditation verwendet und ermöglichen auch ohne instrumentaltechnische Kunstfertigkeit oder musikalisches Vorwissen unmittelbar ansprechende Klangerlebnisse. Dabei geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit Musik als komplexer Kunstform, sondern um ein Mittel zur Steigerung des momentanen Wohlbefindens. Wie ist das zu erklären?

Wir haben im letzten Jahrzehnt in den Industrieländern auf vielen Ebenen eine enorme Verdichtung, Kommerzialisierung, Beschleunigung und Virtualisierung der Lebenswirklichkeit erlebt. Diese globale Entwicklung produziert zwar kurzfristig immer mehr materiellen Wohlstand, führt aber - neben den Belastungen des Ökosystems Erde - für den Einzelnen auch zu steigendem Druck, Stress, Überreizung, Freiheits- und Sinnverlust. Im Gegenzug ist in weiten Kreisen ein Bedürfnis nach Entschleunigung und Versinnlichung auf allen Ebenen entstanden. Wellness-Trend und Körperkult, Esoterik- und Yoga-Boom sind Ausdruck dieser Bedürfnisse. Auch die Suche nach angenehm harmonischen Klangerlebnissen zur Linderung des Leidens am wirtschaftlich-kulturell-sozialen Mainstream unserer Zeit sehe ich in diesem größeren Zusammenhang. Diese positiven Erlebnisse müssen aber möglichst schnell und mühelos verfügbar sein - schließlich ist man ohnehin schon permanent gestresst und überfordert. Da will niemand noch eine weitere Anstrengung.

Für die Aktiven und Freunde der Raga-Musik ergibt sich aus dieser Diagnose eine interessante Perspektive. Vielleicht müssen wir gar nicht frustriert in der Ecke sitzen und über die schlechten Zeiten klagen. Vielleicht können wir uns stattdessen stärker auf den Kern der Raga-Tradition besinnen: Raga ist das, was den Geist färbt. Es geht nicht um den schnellsten Tana, das reinste Shruti oder das komplizierteste Tihai, sondern um einen subtilen, im Grunde aber sehr einfachen geistigen Vorgang zwischen Musik und Hörer, bei dem das sinnliche Musikerleben zu einer unmittelbaren tiefen seelischen Beglückung führen kann - und genau danach suchen ja viele Menschen! Natürlich ist dafür ein inneres Einschwingen und eine gewisse Sensibilität und Offenheit nötig - Instant-Beglückung ist auch mit Ragas nicht zu haben. Aber wir können versuchen, Hemmschwellen abzubauen und unseren Hörern unmittelbaren Zugang zum Raga zu erschließen durch die Art, wie wir unsere Performance gestalten und wie wir auf der Bühne spontan und authentisch präsent sind und kommunizieren. Betonen wir weniger, wie schwierig, fremdartig und kompliziert diese Musik mitunter erscheint - betonen wir lieber ihre Leichtigkeit und Schönheit, machen wir lieber deutlich, wie viel Freude ein Raga ganz einfach und direkt bereiten kann und versuchen wir, diese Freude zu übermitteln! Wenn das gelingt, hat das Färben des Geistes auch im digitalen Zeitalter ganz sicher seinen Platz.