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Visionär indischer Musik - Ravi Shankar

Nachruf von Yogendra
(Januar 2013)

Ich bin in den 1970er Jahren im westdeutschen Zonenrandgebiet aufgewachsen. Meine erste Platte mit Sitarmusik als Teenager Anfang der 1980er Jahre, gefunden in einem kleinen Plattenladen in einem kleinen Provinznest, war das Doppelalbum "The Genius of Ravi Shankar". Meine erste Sitarlehrerin Darshan Kumari war eine Schülerin eines Schülers von Ravi Shankar. Sein Buch "My Music, My Life" war eine wichtige Inspiration auf meinem Weg. Mein Lehrer Ali Akbar Khan, Sohn von Allauddin Khan und Bruder von Annapurna, wäre ohne Ravi Shankar womöglich nie in die USA und nach Europa gekommen, hätte dort keine Schulen gegründet und ich hätte nie bei ihm gelernt. Auch wenn ich Ravi Shankar nie persönlich begegnet bin, verdanke ich ihm doch gewissermaßen mein heutiges Leben. Jetzt ist der legendäre Sitarist Ravi Shankar am 11.12.2012 im Alter von 92 Jahren nach einer Herzoperation in San Diego gestorben. Indiens Premierminister Manmohan Singh nannte ihn bei der Verkündung der Todesnachricht mit Recht einen nationalen Schatz und weltweiten Botschafter des indischen Kulturerbes.

VON VARANASI NACH PARIS

"Schlafen im Haus und zum Pipi hinaus" - diesen bengalischen Kinderreim kennt der kleine Bettnässer Robindro, genannt Robu, auswendig. Aber es hilft nichts. Auch in seiner neuen Heimat Paris erwacht er aus warmen Träumen immer wieder in einem nassen Bett. Im Winter 1930 / 31 ist es in der französischen Metropole bitterkalt, und zur Toilette muss man durch Frost und Schnee. Robu ist 10 und nach einer langen Reise mit seiner Mutter und seinen Brüdern - per Zug von seiner Heimatstadt Varanasi nach Mumbai, dann weiter per Schiff nach Triest und schließlich wieder per Zug nach Paris - frisch in Europa gelandet. Er ist das Nesthäkchen und hat seine Kindheit in materiell ärmlichen Verhältnissen aber liebevoll behütet von seiner Mutter verbracht. Der Vater hat die Familie schon vor Robus Geburt verlassen und lebt in England. Sein 20 Jahre älterer Bruder Uday hat dort schon einige Jahre Kunst studiert und schließlich eine Karriere als Tänzer gestartet. Die Sache mit Paris ist Udays Idee. Nach einem erfolgreichen Duettprogramm an der Seite der berühmten russischen Ballerina Anna Pavlova will er eine eigene indische Bühnenshow für das Publikum in Europa auf die Beine stellen. Und dazu braucht er alle irgendwie verfügbaren Familienmitglieder als Mitwirkende.

SHOWBUSINESS & ASKESE

Für Robu ist Paris wie ein Traum. Mit allen Sinnen nimmt er das Leben der pulsierenden Metropole in sich auf, lernt Französisch, tanzt und spielt verschiedene Instrumente in Udays Show, verkehrt mit der internationalen Künstlerbohème und entdeckt die Reize des schönen Geschlechts. Wie im Zeitraffer wird er aus einer ärmlichen indischen Kindheit in das Leben eines jungen europäischen Dandys gewirbelt. Udays Konzept, ohne klassische Ausbildung aber mit viel Fantasie Elemente verschiedenster indischer Tanztraditionen zu einem effektvollen eigenen Stil zu verbinden, geht auf, die Show ist ein großer Erfolg, und 1932 - 1937 tourt Robu mit der Familientruppe durch Europa und die USA. Aber 1938 verschärfen sich die Spannungen in Europa, der zweite Weltkrieg steht bevor, und es sind keine weiteren Touren mehr möglich. Robu steht an einem Scheideweg. Er entsagt seinem Luxusleben und geht in das zentralindische Provinzkaff Maihar, um dort bei dem charismatischen Musikmeister Allauddin Khan die klassische nordindische Raga-Musik auf der Sitar zu studieren. Sieben Jahre lang taucht er in asketischer Abgeschiedenheit vollkommen ein in die Mysterien der indischen Klassik, erträgt Mücken, Bettwanzen, Eidechsen und Schlangen und unterzieht sich Allauddin Khans berüchtigt strenger Schulung. Die Verbindung wird so innig, dass er sogar Allauddin Khans Tochter Annapurna heiratet und Vater eines Sohnes wird. Als Robu Maihar 1944 mit seiner kleinen Familie verlässt, um in Mumbai eine Karriere als Musiker zu beginnen, tritt er unter einem neuen Namen auf und mit einer neuen Vision: Er will die Schätze der indischen Klassik der Welt zugänglich machen. Als Ravi Shankar wird Robindro Shaunkar Chowdhury mit seiner Vision der erste echte indische Weltstar.

KULTURVERMITTLER

Man muss wohl diese erstaunliche Vorgeschichte kennen, um Ravi Shankars einzigartiges Wesen und sein dadurch ermöglichtes Wirken richtig verstehen und würdigen zu können. Die frühe Vertrautheit mit westlicher Lebensweise und Weltsicht machte ihn zu einem erfolgreichen Brückenbauer zwischen den Kulturen, einem großartigen Vermittler, dem es gelang, im Westen einflussreiche Schlüsselfiguren für indische Musik zu begeistern, mit ihnen teils lebenslange Freundschaften zu schließen und mit ihrer Hilfe eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Dem wenig älteren Geigenvirtuosen Yehudi Menuhin z.B. begegnete Ravi Shankar schon in den 1930er Jahren als Teenager in Paris. Echte Freunde wurden die beiden aber erst als Erwachsene, als Menuhin 1952 auf einer Indienreise ein eigens für ihn arrangiertes Hauskonzert von Ravi Shankar hörte. 1966 / 67 spielten sie dann unter dem Titel "West Meets East" zusammen mehrere Konzerte und nahmen zwei Schallplatten auf, die große Resonanz beim klassisch westlich geprägten Publikum fanden. Erstmals wurde indische Musik, durch die quasi gleichberechtigte Arbeit des westlichen Geigen-Stars mit dem noch relativ unbekannten Inder, im Westen als ernstzunehmende klassische Tradition wahrgenommen. Östlich, bzw. indisch an der Zusammenarbeit war die gesamte Struktur der Musik - sie war das Werk von Ravi Shankar. Westlich dagegen war lediglich die Tatsache, dass die Musik nicht improvisiert wurde, sondern komplett festgelegt und ausnotiert war.

POP-IKONE

Dem behüteten Aufwachsen in der für Hindus heiligen Stadt Varanasi verdankt Ravi Shankar wohl seine tiefen Wurzeln in der traditionellen indischen Spiritualität. Diese Verwurzelung half ihm über viele Lebenskrisen hinweg, war ein ständiger Quell der Inspiration und machte ihn zu einer perfekten Projektionsfläche für die aufbrechende, suchende westliche Jugend in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre. Einer dieser Sucher war George Harrison, als Lead-Gitarrist der Beatles seinerzeit ein weltbekannter Pop-Star. Die beiden trafen sich erstmals 1966 in London und hatten sofort einen guten Draht zueinander. Harrison sah in Ravi Shankar anfangs eine Art Guru, von dem er sowohl Sitar als auch die Mysterien indischer Spiritualität lernen konnte - und Shankar in Harrison einen talentierten jungen Mann mit guten Manieren und ernsthaftem Interesse an indischer Kultur. Das Lernen gestaltete sich wegen seiner vielen Verpflichtungen und der überall auftauchenden hysterischen Fans schwierig für Harrison, aber die Begeisterung für indische Klassik, die tiefe Identifikation mit indischer Spiritualität und die entstandene innige Freundschaft mit Ravi Shankar blieben bis zu seinem Tod 2001. Für Shankar wiederum wurde die Verbindung mit Harrison zum Türöffner in die Welt des Pop. Seine Auftritte bei den Festivals von Monterey und Woodstock, beim Concert for Bangladesh und auf Tour mit Harrison, seine erste Autobiografie "My Music, My Life" und sein autobiografisch gefärbter Dokumentarfilm "Raga" brachten ihn Anfang der 1970er Jahre auf den Höhepunkt seiner Popularität.

RAGA-MEISTER

Seinen Status als Pop-Ikone wusste Ravi Shankar zwar zu nutzen, um seine Karriere voranzubringen, aber psychedelischer Drogenkult, freie Liebe und Revoluzzertum der jugendlichen westlichen Gegenkultur blieben dem inzwischen 50-jährigen verstörend fremd. Er verstand sich letztlich eben nicht als Entertainer im Showbiz, sondern blieb seiner Identität als klassisch-indischer Raga-Musiker aus der strengen Schule von Allauddin Khan treu. Von Anfang bis Ende seiner Musikerlaufbahn spielte er traditionelle Sitarkonzerte wo immer sich Gelegenheit dazu bot. Anfangs erreichte er damit nur den kleinen Kreis der Raga-Kenner in Indien. 1956 / 57 kamen dann die ersten Touren im Westen, zunächst noch überwiegend für indische Auslandsstudenten und Immigranten. Mit steigendem Bekanntheitsgrad erreichte er aber eine immer gröߟere ֖ffentlichkeit, sowohl in Indien wie auch im Westen. In seinen Raga-Interpretation war Ravi Shankar allerdings nicht starr orthodox, sondern brachte mit seiner Kreativität, seinem stets wachen, immer an neuen Ideen interessierten Geist und seinem feinen Gespür für musikalische Wirkung etliche neue, belebende Elemente in die Tradition ein. Er modifizierte die Sitar, um ihre Ausdruckmöglichkeiten zu erweitern, wertete die Rolle des Tabla-Begleiters auf, indem er ihm Raum für eigene Soli gab, nahm ungewöhnliche rhythmische Zyklen ins Repertoire, integrierte Ragas und rhythmische Strukturen aus der südindischen Musik in sein Spiel, kreierte eigene neue Ragas und etablierte zusammen mit Ali Akbar Khan das Duett zweier gleichberechtigter Melodiesolisten auf unterschiedlichen Instrumenten als neue Form in der Konzertpraxis. Nebenbei kümmerte er sich auch darum, sein Wissen und seine Ideen an die nächste Musikergeneration weiterzugeben, indem er ausgewählte Schüler nach alter Sitte in sein Haus aufnahm und unterrichtete. All das machte ihn über den bedeutenden Raga-Interpreten hinaus zu einem der wichtigsten Impulsgeber der nordindischen Klassik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

KOMPONIST

Ravi Shankars musikalisches Schaffen beschränkte sich aber nicht auf die solistische und zu wesentlichen Teilen improvisierte traditionelle Raga-Musik. Er war auch zeitlebens fasziniert von den Klangmöglichkeiten, die sich durch das Zusammenwirken mehrerer Instrumente ergeben. Prägend waren seine Eindrücke vom musikalischen Begleitensemble bei Uday Shankars Tanzshows, von der Maihar-Band seines Lehrers Allauddin Khan und von westlichen Orchestern in den 1930ern. Anfang der 1950er Jahre arbeitete Ravi Shankar als Musikdirektor bei All India Radio in Delhi und nutzte diese Gelegenheit zur Gründung eines nationalen Kammerorchesters mit überwiegend indischen Instrumenten. Hier hatte er den nötigen Freiraum, um eigene Vorstellungen zu entwickeln und in Kompositionen umzusetzen. Ein erster Meilenstein war dann seine Filmmusik zu Satyajit Rays auch international gefeierter Apu-Trilogie 1955 - 59, gefolgt von etlichen weiteren effektvollen Film- und Theatermusiken für künstlerisch ambitionierte indische Produktionen. Kompositorisches Neuland betrat er ab 1971 mit insgesamt drei Konzerten für Sitar und Orchester, die mit renommierten westlichen Orchestern und mit ihm selbst als Solisten weltweit aufgeführt wurden. 1982 folgte die Filmmusik zu Richard Attenboroughs oscarüberhäuftem Gandhi-Biopic und 1990 in der Zusammenarbeit mit Minimal Music Komponist Philip Glass für die CD "Passages" eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen westlichen Kompositionsideen. Basis aller kreativen Experimente blieb für Ravi Shankar aber immer die traditionelle Musik Indiens mit ihren Ragas, Volksliedern und religiösen Gesängen.

PRIVATLEBEN

Bei groߟen Stars hat die Öffentlichkeit auch ein Interesse am Privatleben. Das von Ravi Shankar war lange Zeit von Spannungen und Zerrissenheit überschattet. In seiner zweiten Autobiografie "Ragamala", erschienen 1997, gab er relativ freimütig darüber Auskunft. Die Ehe mit seiner ersten Frau Annapurna ging schon nach wenigen Jahren in die Brüche. Die beiden trennten sich allerdings erst 1967 endgültig, und erst 1982 stimmte Annapurna der offiziellen Scheidung zu. Das Verhältnis zum gemeinsamen Sohn Shubho blieb bis zu dessen frühem und unglücklichem Tod 1992 schwierig. Von den späten 1940er Jahren bis 1981 unterhielt Ravi Shankar eine feste Beziehung zu Kamala Shastri, die er aber wegen der weiter bestehenden Ehe mit Annapurna nicht heiraten konnte. Daneben hatte er zahlreiche wechselnde Affären. Mit Susan Jones wurde Ravi Shankar 1979 Vater von Norah Jones, heute eine bekannte Soul- und Jazzsängerin, und mit Sukanya Rajan wurde er 1981 Vater von Anoushka. Ab 1974 hatte er Herzprobleme, die schlieߟlich 1986 eine vierfache Bypass-Operation nötig machten. Nach langen Jahren als Globetrotter ohne echtes Zuhause entschied sich Ravi Shankar danach, sein Leben neu zu ordnen. 1989 heiratete er Sukanya und lieߟ sich mit ihr und Anoushka in Kalifornien nieder. Die liebevolle Verbindung mit Sukanya dauerte bis zu seinem Tod. Nach der Heirat brach allerdings Sue Jones mit der gemeinsamen Tochter Norah verbittert jeden Kontakt mit ihm ab. Erst als Norah erwachsen war, fanden Vater und Tochter wieder zueinander. Mit Anoushka verband Ravi Shankar ein sehr inniges Verhältnis. Er schulte sie zur klassischen Raga-Interpretin, trat regelmäߟig mit ihr zusammen auf und förderte ihre Karriere nach besten Kräften. Ihren Erfolg als Musikerin und die Geburt ihres Sohnes Zubin 2011 empfand er hochbetagt noch als groߟes Glück. Zusammen mit Anoushka gab er am 4. November das letzte Konzert seines langen und bewegten Lebens

LEBENSWERK

Ravi Shankar hat wunderbare Musik geschrieben, groߟe Konzerte gegeben, die klassische indische Instrumentalmusik mit vielen Neuerungen bereichert und so wesentlich zu ihrer enormen Aufwertung gegenüber der traditionell höher geschätzten Vokalmusik beigetragen. Sein Platz in der Musikgeschichte im allgemeinen und der Geschichte der indischen Musik im 20. Jahrhundert im besonderen ist ihm damit sicher. Aber die kulturgeschichtliche Bedeutung seines Lebenswerks geht weit darüber hinaus. Nahezu im Alleingang, begabt mit hoher Musikalität und künstlerischer Kreativität, ausgestattet mit Sprachkenntnissen, Eloquenz und einem charismatisch inspirierenden Wesen wie kein anderer indischer Musiker seiner Zeit, getrieben von einem visionären Drang, löste er die indische Musik aus den Begrenztheiten ihrer Herkunftskultur und offenbarte der Welt ihre universale Schönheit. Das heute existierende, kulturübergreifende und weltumspannende Netzwerk indischer Musik und der Status, den sie weltweit als klassische Hochkultur genieߟt, ist ohne Ravi Shankar nicht denkbar. Sein Wirken hat nicht nur das Innere der Musikwelt verändert, sondern die Wahrnehmung von Musik in der Welt.

"My goal has always been to take the audience along with me deep inside, as in meditation, to feel the sweet pain of trying to reach out for the supreme, to bring tears to the eyes, and to feel totally peaceful and cleansed." - Ravi Shankar